Juni"Du solltest etwas pünktlicher sein, Victoria." Sie erstarrte in der Bewegung. Na toll. Mit routinierten Handgriffen warf sie den Stoff ihres langen Kleides über ihre schmutzigen Füße und wandte sich möglichst elegant um - doch vor ihr stand lediglich ihr Bruder Marley. Entnervt stieß sie den Atem aus und schritt energisch auf ihn zu, wobei ihre nackten Fußsohlen auf den glatten, kühlen Marmorboden klatschten. "Seit wann sprichst du mich so an, Götter nochmal?", zischte sie ihm zu. Nur der unwissende Hofadel und ihr Vater nannten sie so. Marley hob eine Augenbraue und hakte sich bei ihr unter bevor sie es verhindern konnte. "Seitdem wir hier auf dem Weg zu einer öffentlichen Veranstaltung sind. Ich nenn dich gern wieder Juni, das könnte Paps aber gegen den Strich gehen, was meinst du?" Sie verdrehte die Augen. "Du hättest auch einfach >Weil halt< sagen können wie ein gewöhnlicher pubertärer Junge. Weißt du, es ist untypisch für Jugendliche protzige Reden zu schwingen.", erklärte sie ihrem kleinen Bruder gönnerhaft. Marley räusperte sich aufgrund dieser bodenlosen Frechheit und sah sie grimmig an. "Sei nicht so zynisch. Schließlich halte ich heute noch eine Rede. Ich muss mich warmreden.", antwortete er und plusterte sich auf. Juni prustete los. "Ein kleiner Toast. Das ist alles.", berichtigte sie ihn und machte sich los. "Außerdem musstest du Quasselstrippe dich noch nie warmreden. Du hast schon gesprochen da warst du noch nichtmal geboren." Lachend schritt sie voraus, denn in einem hatte Marley nunmal doch Recht: Sie waren viel zu spät dran. Außerdem knurrte ihr Magen. Sie bogen um eine Ecke, eilten durch einen der unzähligen dunklen Seitenflure des riesigen Herrenhauses ihres Vaters, zogen eine schwere Flügeltür auf und schlüpften unauffällig in den hell erleuchteten Saal in dem die Veranstaltung stattfand. Genau genommen war es eine Dinnerparty. Irgendetwas wurde gefeiert - was genau wusste Juni nichtmal. Aber es gab gutes Essen, was, wie weitestgehend bekannt, Juni bei Weitem reichte um zu erscheinen. Sie und ihr Zwillingsbruder Marley - er war unwesentliche zwei Minuten jünger, was Juni sich allerdings nie nehmen ließ zu betonen - reihten sich unauffällig zwischen die vielen Gäste ein, scheinbar unbeobachtet. Was natürlich völliger Blödsinn war. Jedes Augenpaar im Raum war auf die Geschwister gerichtet, mehr oder weniger auffällig, wie immer. Es gab selten eine Gelegenheit den neugierigen Geschäftspartnern und Adelsleuten ihres Vaters zu entfliehen. Die Diener ihres Vaters machten ihre Arbeit gut - denn sie informierten ihn sofort darüber dass seine stets unpünktlichen Kinder endlich eingetroffen waren.
Kaum standen sie und Marley an ihrem zugedachten Platz ganz vorne in der Menge, erschien auch schon ihr Vater auf der weitläufigen Bühne, die den hinteren Teil des Tanz- und Dinnersaals einnahm. Sein Bauch, den die Höflichen als >stattlich< und die Gehässigen als >fett< beschrieben, nahm das Meiste seiner Gestalt ein. Alles an ihrem Vater war groß, stattlich, selbstbewusst und redegewandt. Wie immer trug er ein stolzes, charmantes Lächeln auf den Lippen. Seine tiefe Stimme hallte von den Wänden wider als er zu sprechen begann: "Ich wünsche Ihnen allen einen wunderschönen Abend. Es ehrt mich, so viele vertraute Gesichter zu erblicken. Heute Abend feiern wir einen großen Sieg: den Sieg über Unruhe und Ungehorsam!" Applaus wurde laut und zustimmende Rufe halten wider, und sie stimmten mit ein. Juni hatte keine Ahnung wovon er sprach. Dennoch - sie lauschte der schwungvollen Rede ihres Vaters. Nachdem er theatralisch geendet und rauschenden Applaus geerntet hatte gesellte sich Juni zu einigen der aufwändig herausgeputzen Herrschaften um ein wenig Smalltalk zu betreiben. Lady Rosanna, eine ältere Dame mit unnatürlich roten Bäckchen und einer extravagant aufgetürmten Frisur drückte ihr einen unnötig feuchten Kuss auf die Wange. Juni zwang sich zu lächeln. "Kindchen, es freut mich dich endlich mal wieder zu sehen! Was machen deine Studien? Wie hübsch dein Haar ist, Victoria! Wie das deiner Mutter, nur heller. Wunderschön. Du solltest mehr Makeup auftragen, mit den Sommersprossen müsste man beinahe meinen du bist den lieben langen Tag an der grässlichen Sonne." Juni lauschte den vermeintlichen Komplimenten der Damen und Herrschaften mit eingefrorenem Lächeln und verdrängte das Verlangen sich aus den übermäßig parfümierten Mengen hinauszukämpfen. Natürlich war sie den ganzen Tag draußen - aber das wollten diese Leute nicht hören. Natürlich sah sie aus wie ihre Mutter und natürlich schmerzte dieser Vergleich ungemein. Doch sie benahm sich wie eh und je freundlich und zurückgenommen. Als sie dann endlich nach einer gefühlten Ewigkeit am Banketttisch platznehmen durfte fiel die meiste Last von ihren Schultern ab. Sie saß zur Linken ihres Vaters. Marley drapierten die Platzanweiser zu seiner Rechten.
Den ganzen Abend wurde gegessen, gelacht und getrunken, Marley sprach seinen heißersehnten Toast - "Auf Joseph Campbell, den geschicktesten Aktionär und Geschäftsmann den ich kenne - auf meinen Vater!" - und nach ein paar lauten, heißen Stunden war es ihr endlich möglich sich aus dem Staub zu machen. Die Feste im Herrenhaus konnten schön und aufregend sein, dennoch reichte es Juni meist bereits nach kurzer Zeit. Heute schaffte sie es zu ihrem Glück sich unauffällig zwischen den torkelnden und tanzenden Menschen hindurchzuschlängeln und leise bei einer Seitentür hinauszuschlüpfen. Im zwielichtigen Flur huschte sie Richtung Dienstbotenflügel, linste um Ecken um den Wachleuten zu entgehen, die ihrem Vater ihre nächtlichen Spaziergänge sicherlich berichtet hätten, und erreichte schließlich den Wintergarten, durch den sie in die Gewächshäuser gelangte. Und durch diese wiederum flüchtete sie hinaus an die kühle Nachtluft. Die weiten Ländereien des Landsitzes ihrer Famile erstreckten sich vor ihr, durchsetzt mit Werkstätten, Scheunen und anderen Gewächshäusern, sowie Kräutergärten und allem was das verwöhnte Herz begehrte. Juni erreichte eine der verfallensten Scheunen, duckte sich durch die niedrige Tür und streifte das feine Abendkleid ab. Der schwere Stoff glitt ihr von den Schultern und ließ sie endlich wieder frei atmen. Routiniert verbarg sie den teuren Stoff unter einer Holzkiste - die Dienstmädchen würden sie umbringen wenn sie wüssten was sie regelmäßig mit den teuren Gewändern anstellte - und stieg stattdessen in eine verschlissene Jeans, warf sich ein fleckiges Flanellhemd über und band ihr wallendes rotes Haar zu einem wirren Knoten im Nacken. Ihre Füße waren den ganzen Abend über nackt gewesen und blieben es auch nun. Sie verließ die Scheune und arbeitete bereits in Gedanken an ihrem neuesten Projekt das in der hintersten der Werkstätten auf sie wartete, zusammen mit ihren Freunden denen sie unbedingt von ihren neuen Ideen erzählen musste.
Doch da raschelte es in einem Baum hinter ihr. Ihr Körper durchfuhr dieselbe Starre wie zuvor bei Marleys plötzlichem Auftauchen - der einzige Unterschied bestand darin dass dieses mal ihre Sorge vollkommen berechtigt war. Juni ballte die Fäuste und wirbelte herum. Im selben Moment fiel eine schlanke Gestalt aus den Ästen des alten Baumes dessen Zweige tief auf sie herabhingen. Die Äste verbergen die Sicht auf uns., schoss es ihr durch den Kopf und sie verkrampfte die Haltung. Die Gestalt landete elegant in der Hocke, nur wenige Meter von ihr entfernt. Geschmeidig wie eine Raubkatze erhob sie sich und richtete das Wort an Juni: "Hi. Du musst Victoria sein." Schon wieder dieser Name. Ernsthaft? Schalt sie sich selbst. Dir steht eine vermummte Gestalt gegenüber und du denkst an deinen verhassten Namen? Während sie sich über ihre ausbleibende Panik wunderte bemerkte sie dass die Gestalt vor ihr eine junge Frau sein musste - schlanke, gewundene Gliedmaßen, feingezeichnete Konturen der Finger und des Halses. Eine Malerin erkannte die Anatomie eines Menschen nunmal. Außerdem klang die Stimme ziemlich weiblich. Scharfsinnig, Sherlock. Juni holte tief Luft. "Hallo. Ich glaube, das sage ich dir besser nicht - ich, ich muss jetzt dann auch gehen, okay? Also dann -" Sie wich während sie sprach immer weiter zurück, bis sie gegen eine feste, hohe Brust prallte. "Netter Versuch, Kleines. Wir wissen wer du bist.", erklang eine tiefe Stimme hinter ihr. Juni schloss die Augen. Wieso musste nur immer sie solches Glück haben? Das Mädchen kam auf sie zu und der große Mann hinter ihr nahm Junis Hände auf ihrem Rücken zusammen. Nicht unbedingt grob, aber bestimmt. Als Juni versuchte sich zu wehren schraubte das Mädchen eine kleine Metalldose auf und hielt sie Juni unter die Nase. Sie wollte zurückweichen, wurde jedoch an Ort und Stelle gehalten, und irgendwann konnte sie die Luft nicht länger anhalten. Der Inhalt der Dose verströmte einen herben, blumigen Duft, wahrscheinlich Lavendel und noch etwas anderes, der sie augenblicklich schläfrig machte. Vor Junis Augen verschwamm alles, dann fiel sie in einen traumlosen, tiefen Schlaf.Mykal
Ist ja beinahe zu leicht, dachte Mykal und sah auf Victoria hinab, wie sie ins taunasse Gras gesunken dalag, ein Mädchen das nur wenige Jahre jünger war als sie selbst. Sie schüttelte den Kopf. Ihr Bruder Rowan war eben dabei ihre Hände und Füße zu fesseln, nur falls das Mädchen früher als geplant erwachen sollte. Natürlich wäre auch das keine sonderliche Herausforderung. Obwohl Mykal zugeben musste dass die kleine Tochter des mächtigsten Mannes der Stadt erstaunlich viel Rückgrat zu besessen schien. Oder sie war einfach nur eingebildet - manchmal kam das auf das Selbe heraus. "Bring sie zu Thekla und Lene. Ich kümmere mich solange um den Sohn.", raunte sie Rowan zu. Ihr Bruder, groß und dunkel, nickte knapp und verschwand in der Nacht. Mykal huschte über die offene Grünfläche ohne entdeckt zu werden. Unter einem Fenster, das in den ersten Stock des Herrenhauses einblicken ließ, hielt sie inne. Und wartete.
Erst etwa eine Stunde später sah sie Licht im Fenster und hörte das Poltern schwerer, betrunkener Schritte. Sobald die Shilouette des Jungen im Fenster erschien warf Mykal das kleine Döschen mit dem speziell extrahierten Kräutersubstanzen in die Höhe und riss die Hände nach oben - die Luft gehorchte ihr augenblicklich. Mykal lenkte einen sanften Wind, schwer vom Duft der Schlafkräuter, durch das geöffnete Fenster ins Innere des Herrenhauses. Sobald Marley den herben Geruch einatmete wurden seine ohnehin schwankenden Glieder schwach. Während er in sich zusammensank hob Mykal ihn sanft von den Füßen - mit ein paar geschickten Handbewegungen ließ sie ihn zum Fenster emporsteigen und herausschweben. Eine Windpagan wie sie war wie gemacht für stille und unauffällige Operationen. Und obwohl Mykal und Rowan persönlich mehr Gefallen an krachenden Auftritten fanden - sie glich einem Wirbelsturm so sehr wie ihr Bruder einem stetigen Herbstwind - schafften sie es zusammen mit den beiden einzigen Kindern des Geschäftsmannes Joseph Campbell genau so elegant zu verschwinden wie sie gekommen waren. Und das ohne einen einzigen Wachmann bei seiner Schicht auch nur gestört zu haben.
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The Parrots - Eine Rebellion
FantasyJuni ist die Tochter des einflussreichsten Mannes der Stadt. Als sie und ihr Bruder von der Rebellengruppe The Parrots als Geiseln genommen werden ahnt sie nicht wer ihr Vater wirklich ist - und dass sie schon sehr bald entscheiden muss ob sie den e...