Henry
Er sah sie das erste Mal als sie den Verschlag, das unerwartet große Hauptquartier der Rebellentruppe, beraten. Und er erkannte Victoria Campbell sofort. Sie sah aus wie ihr Vater - das Rote Haar, der füllige Körperbau, die helle, sommersprossige Haut. Nur war sie im Gegensatz zu ihrem Vater umwerfend. Sie entsprach keinen der typischen Schönheitsidealen, gewiss nicht. Aber in ihrer Haltung, der Art wie sie das Kinn neigte, wie ihr Blick zu ihm schweifte und sich kurz mit dem seinen verfing, das schelmische Aufblitzen in ihren Augen ... Henry hatte den Blick abwenden müssen. Und erst als er ihre einnehmenden Präsenz von sich schob erkannte er den Fehler in dieser ganzen Szenerie - denn Victoria war ganz offensichtlich nicht unbehaglich zumute. Im Gegenteil; ihre momentane Beschäftigung bestand darin mit zwei weiteren Mädchen Blumenkränze zu flechten. Blumenkränze. Und aufgrund des schelmischen Blickes den sie mit dem blonden Mädchen tauschte wirkte sie ganz und gar nicht wie eine Gefangene. Doch bevor Henry herausfinden konnte was es mit diesem ungewöhnlich ausgelassenem Empfang auf sich hatte betrat ein großer, blonder Mann die Küche, die Arme weit ausgebreitet. Zugegeben, der Anführer der Parrots bot ein beeindruckendes Bild. Er erschien Henry jedoch erstaunlich jung für einen solch weitbekannten Wiederstandskämpfer. Henry war ihm nie begegnet, hatte jedoch die ein oder andere verblüffende Geschichte über den im ganzen Land unter Kauf- und Geschäftsleuten verhassten Rebellenkönig gehört. Solche Geschichten erwartete man nicht von einem jugen Mann der gerade alt genug war um nicht mehr als Teenager zu gelten. Doch Henry schalt sich den Mann nicht zu unterschätzen - mit einem letzten Blick zu Victoria, die ihn neugierig fixierte, folgten er und Bruno dem Anführer die Treppen in den fünften Stock hinauf.
Atlas - so hieß der blonde Bursche - stieß die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf, völlig unbeeindruckt von den vielen Stufen. Er hüpfte beinahe. Ein leichtes Seitenstechen erinnerte Henry daran sein Ausdauertraining mal wieder aufzufrischen. Bruno keuchte leicht. Als Atlas hinter einen breiten Schreibtisch trat und sich zu ihnen umwandte schien es mit einem Mal als stünde ein anderer Mann vor ihnen - auf den eben noch weichen Zügen des Mannes lag nun ein ernster Ausdruck, den Henry ihm nie zugetraut hätte. Er fackelte nicht lange und ließ sich in den Bürostuhl fallen. "Eure Vollständigen Namen.", verlangte er schroff. Er deutete auf Bruno. "Du bist Reporter. Bruno Rodrigez soweit ich informiert bin. Nicht gerade unauffällig. Gutes Geschäft?" Bruno lächelte verschmitzt. "Kommt immer auf die Storys drauf an, aber reicht meist gut zum Leben. Mir ist wichtiger dass ich den Job mag." Bruno war gut im bescheiden sein. Damit schien Atlas vorerst zufrieden. Natürlich wäre es dumm gewesen einer Zeitungsratte sofort zu vertrauen. Er drehte sich im Stuhl zu Henry. "Erzähl mir was, Majors."
Den Neuling reden lassen um herauszufinden ob er blufft. Gute Taktik. Aber Henry war ebenfalls gut im Spielen. "Ich arbeite seit einem Jahr als ausgebildeter Schreiner. Hätte aber gern einen größeren Sinn im Leben. Als ich mit Bruno drüber sprach meinte er, er ebenfalls. Wir haben von euch gehört und wollen uns nützlich machen."
"Welche Schreinei?"
Kein langes Geplänkel, sehr gut.
"Klark Majors, er ist mein Onkel. Unten im Süden, paar Blocks vom Markt entfernt." Klark Majors war in Wirklichkeit ein Kunde von Henry, dessen Information zu seiner Spielsucht er seit vielen Jahren gut vertuschte.
Er fungierte bereits lange als sichere Tarnung bei Undercoverarbeiten. "Geschwister?" Beide verneinten. "Alter?" Bruno war neunzehn, Henry zwanzig. Wahrheitsgemäß. Es folgten noch ein paar präzise Fragen denen kein ungeübter Spion standgehalten hätte. Atlas setzte sie mit scheinbar belanglosen, jedoch verhängnisvollen Stolperfallen unter Druck und Henry wich ihnen zum Teil haarscharf aus - und dann war es vorbei. Atlas lächelte charmant, wieder ganz der fröhliche Narr wie zuvor. Vor diesem Kerl mussten sie sich in Acht nehmen. Atlas legte ihnen handgeschriebene Verträge vor, die absolute Schweigepflicht und Einhaltung der unten aufgeführten Regeln beinhalteten. Sie unterzeichneten, dann winkte Atlas sie hinaus. "Jedes Zimmer im dritten Stock an dessen Tür ein Schlüssel steckt ist frei. Immer abschließen wenn ihr es verlasst. Ich will keine Scherereien zwischen mutmaßlichen Dieben. Ich erwarte die erste Zahlung für Unterhalt und Mahlzeiten am Anfang des Monats. Alles weitere klären wir nach dem Abendessen, pünktlich um acht. Wenn ihr woanders speist gebt immer demjenigen Bescheid der Küchendienst hat. Viel Spaß, Jungs." Damit waren sie entlassen.Die Aufregung der beiden die still in der Luft gebitzelt hatte verpuffte - sie sahen sich an und lächelten erleichtert. Obwohl sie Profis und langjährige Partner waren blieben solche Aufträge immer etwas Besonderes. Schweigend gingen sie nach unten in den dritten Stock um sich ihre Zimmer auszusuchen - doch als er um eine Ecke in der vierten Etage bog stieß Henry mit Victoria zusammen. Sie prallten gegeneinander, sie verlor beinahe das Gleichgewicht und wurde lediglich von Henrys starken Händen aufrecht gehalten die sich reflexartig um ihre unglaublichen Hüften legten. Ganz, ganz kurz streifte sein Daumen die nackte Haut zwischen Hosenbund und Hemdsaum. "Hey, nicht so stürmisch.", bemerkte er rau und ganz kurz erwartete er Juni unter seinen Finger dahinschmelzen zu sehen, genau wie es bereits einige Male mit einigen anderen Mädchen geschehen war. Doch als er sie ansah lag Eiseskälte in ihren Augen die an einen Teich im frühen Herbst erinnerten. Mit ruhiger, erboster Stimme sagte sie: "Lass deine Hände gefälligst bei dir, Casanova. Sonst hast du das nächste Mal keine mehr, verstanden?" Ihm gefror das Blut in den Adern. Sie machte sich los, zog ihre Klamotten zurecht und rauschte an ihnen vorbei, weiter die Treppe hinauf. Henry stand da wie vom Blitz gerührt, die Hände noch immer von sich gereckt als stünde Victoria noch vor ihm. Bruno lachte Tränen. Er hielt sich den Bauch. "Das hast du ja fein hingekriegt, Casanova." Henry boxte ihn in die Seite, war jedoch zu Tode froh dass in den engen Gängen des Verschlags nur schlechte Beleuchtung herrschte - denn seine Wangen glühten vermutlich scharlachrot.
Wenigstens konnte er sich nun sicher sein dass Victoria Campbell auf keinen Fall mehr eine Gefangene war, wenn sie denn überhaupt jemals eine gewesen war. Er würde es herausfinden.
Er folgte dem noch immer kichernden Bruno die Treppe hinunter in den dritten Stock. Doch die Röte auf seinen Wangen blieb vorerst erhalten.
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The Parrots - Eine Rebellion
FantasyJuni ist die Tochter des einflussreichsten Mannes der Stadt. Als sie und ihr Bruder von der Rebellengruppe The Parrots als Geiseln genommen werden ahnt sie nicht wer ihr Vater wirklich ist - und dass sie schon sehr bald entscheiden muss ob sie den e...