Kapitel 21 - In der Höhle des Löwen

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Juni

Als sie über das unebene Kopfsteinpflaster gingen versagten Juni beinahe die Knie.
Sie wollte rennen. Weit, weit weg. Zu Atlas, zu Twila, zu all den anderen.
Sie wollte wieder im Verschlag sitzen und zusammen mit den Parrots lachen.
Doch ihre Hände waren noch immer mit dem rauen Strick gefesselt, den der schwarz gekleidete Sicherheitsmann fest im Griff hielt. Außerdem schmerzte ihre Seite und ihr war kalt. Weit wäre sie ohnehin nicht gekommen.
Und außerdem lasse ich die Parrots nicht im Stich. Ich krieg das schon hin. Ich steh das durch.
Doch als sie endlich den Mut fand und den Blick hob wurde ihr übel. Ihr Vater wartete auf sie, nur wenige Meter von ihr entfernt. Hinter sich konnte sie noch Atlas und Alistairs eilige Schritte hören. Sie entfernten sich schnell. Gut. Kaum merklich verlangsamte sie ihre Schritte und hoffte so ihnen noch ein paar Sekunden mehr Zeit verschaffen zu können.
Ihr Vater kam ihnen entgegen sobald der Platz verlassen da lag und nahm Juni und Marley in den Arm. "Den Göttern sei Dank, euch geht es gut. Kommt, kommt wir behandeln euch im Wagen. Wir sollten schleunigst verschwinden. Lasst uns nach Hause fahren, Kinder." Bildete sie sich das nur ein oder zitterte seine Stimme etwas? Er schien ehrlich gerührt, ehrlich besorgt. Durch all die schrecklichen Geschichten die sie über ihren Vater in den letzten Tagen gehört hatte war ihr entfallen dass er trotz allem ihr Vater war.
Es ist leicht zu behaupten dass jemand einem nichts mehr bedeutet wenn man ihn nicht sieht. Doch sobald man dieser Person gegenübersteht gerät die einstige Überzeugung gefährlich ins Wanken.
Kann er wirklich all diese furchtbaren Taten begangen haben? Vielleicht irren sich Atlas und all die anderen ja. Vielleicht ...
Juni schloss die Augen.
Ihr Vater liebte sie - aber das machte seine Taten dennoch nicht ungeschehen. Auch wenn sie sich das noch so sehr wünschte.
"Und nehmt ihnen doch endlich diese schrecklichen Fesseln ab! Wofür bezahle ich euch Nichtsnutze eigentlich?", pulverte Campbell und schnippte eine Wache herbei. Die Fesseln wurden mit einem kräftigen Ruck durchtrennt.
Anschließend wurden sie zu einer Reihe von glänzenden, schwarzen Fahrzeugen gebracht. In dem größten nahmen sie Platz, zusammen mit dem Arzt, den Heilern und ihrem Vater. Die Sicherheitsleute verteilten sich auf die anderen Wägen. Anschließend fuhr die Karawane los Richtung Norden. In ihrer Brust zuckte ein heißer Schmerz auf als sie die verwinkelten Holzgebäude an sich vorbeiziehen sah und diese langsam durch solidere, aus Stein bestehende Residenzen und Villen ersetzt wurden. Während sie untersucht und geheilt wurde - was an sich schon eine recht nervenaufreibende Prozedur war, vorallem das Richten ihrer gebrochenen Rippe - bemühte sie sich stets aus dem Fenster zu blicken. Im Augenblick vertraute sie ihrer eigenen Mine nicht recht und fürchtete, sofort durchschaut zu werden. Doch als die Heiler ihre Arbeit beendeten blieb ihr nichts anderes übrig als sich zusammenzunehmen und sich ihrem Vater zuzuwenden. "Ihr seht schon viel besser aus. Hier, zieht das über. Gebt ihnen doch endlich etwas zu Essen!", rief Campbell aus und gestikulierte wild. Einer der offensichtlich erschöpften Heiler versuchte Juni aufmunternd zu zulächeln. Sie erwiderte die Geste, denn sie war sich sicher dass der Arme Kerl wesentlich mehr Schmerzen litt als sie in diesem Moment.
Sie und Marley hüllten sich in Decken und begannen wie ausgehungert zu essen. Währenddessen tätschelte ihr Vater ihnen glücklich die Hände, lächelte selig und sorgte stets für Nachschub.
Als der Wagen schließlich mit einem leichten Ruck hielt sackte Junis Magen jedoch einen Moment ab und sie glaubte sich übergeben zu müssen.
Und als die Autotür geöffnet wurde und sie ausstieg fühlte es sich an wie der letzte Gang zum Galgen. Sie zwang sich zu einer erleichterten Mine. Als Marley neben sie trat seufzte er tief. Es spielte das Ganze viel besser als sie. Für sowas besaß ihr Bruder eben Talent. Er wandte sich ihr zu und lächelte aufmunternd. "Wir haben es geschafft. Komm, lass uns reingehen bevor sie misstrauisch werden." Ihr Bruder stieß sie sanft an der Schulter und nahm sie bei der Hand. Zusammen erklommen sie die Marmorstufen zum Eingangsportal des Herrenhauses, das sie so lange ihr Zuhause genannt hatten. Doch nun, nach nur dieser einen Woche bei den Rebellen, sah sie das alles mit ganz anderen Augen. Die Böden waren viel zu kalt, die Hallen zu groß, die Decken zu hoch, das Mobiliar zu prunkvoll und teuer. Wie hatte sie all das als selbstverständlich erachten können? Als normal?
Sie waren auf unzähligen Bällen in sämtlichen Villen der Nordstadt gewesen und nie hatte auch nur ein einziges Anwesen das ihrer Familie übertreffen können. Und trotzdem war ihr nie klar gewesen dass ihr eigener Vater der mächtigste und reichste Mann in ganz Quintis war. Diese Erkenntnis war erschütternd.

Schweigend schritt sie zusammen mit ihrem Bruder durch die Hallen und wurde vom Arzt dazu angehalten sich zu waschen, erneut zu trinken und zu essen und sich anschließend auszuruhen.
Genau wie vermutet.
Ihr Vater umarmte sie ein weites Mal und lächelte strahlend.
Er begleitete sie hinauf in ihre Zimmer und rief zwei Zimmermädchen um ihnen bei allem behilflich zu sein.
Juni mochte es nicht sonderlich wenn ihr jemand dabei zusah wie sie sich wusch, ließ es aber über sich ergehen. Schließlich wollte sie keinen Verdacht erregen - und außerdem war es wirklich nützlich jemanden zu haben der einem den Rücken wusch, denn der verkrustete Dreck und das getrocknete Blut juckten höllisch.
Sie wusch sich, kämmte sich das verfilzte Haar und wickelte ihren vom heißen Wasser noch rosigen Körper in ihren flauschigen Bademantel. Darauf war ihr Name gestickt - Victoria. Solche Kleinigkeiten waren ihr noch vor einer Woche nie aufgefallen. Solche unnötigen Kleinigkeiten. Ihr grauste. Wie verwöhnt konnte man sein?
Sie danke dem Zimmermädchen und schickte es fort. Doch als sie aus dem Badezimmer trat sah sie ein Kleid auf ihrem Bett liegen - schreckliches Eierschalenweiß, bestickt mit Perlen und Spitze. Protziger Schmuck lag auf der Kommode bereit und ein paar Schuhe warteten daneben. Juni stuzte. So eine Gaderobe war gedacht für Bälle, Anlässe oder andere Feiern. Ganz bestimmt nicht für einen ruhigen Abend mit der Familie und frühes Zubettgehen. Ihr rutschte das Herz in die Hose.
Nein nein nein.
Der Plan war ihren Vater beim Abendessen ein Schlafmittel in den Wein zu mischen um ihn zwei Stunden später problemlos aus dem Schlafzimmer entführen zu können.
Sie stürzte zum Telefon, das auf ihrem Nachttisch stand, und wählte die Durchwahl in das Büro ihres Vaters. Er war sicher im Büro. Als er abhob schluckte sie die aufkeimende Panik hinunter. "Papilein! Was ist denn das für ein zauberhaftes Kleid? Etwa ein Geschenk?", flötete sie in den Hörer und betete dass es nichts weiter als ein Willkommenspresent war. Ihr Vater jedoch lachte amüsiert am anderen Ende der Leitung. "Ach, mein Liebling. Natürlich ist das ein Geschenk. Was solltest du denn sonst heute Abend auf dem Fest tragen?" Juni musste sich setzen. Das durfte nicht wahr sein. Sie zwang sich zu lachen. "Ein Fest? Was für eine tolle Idee!", rief sie aus und brach beinahe in Tränen aus. In der Leitung ihres Vaters erklang eine dumpfe Stimme im Hintergrund. "Ja, nein Schatz, ich dachte mir das wäre eine wundervolle Willkommensgeste für dich und deinen Bruder. Wir haben uns alle solche Sorgen um euch gemacht. Wir haben alle meine Geschäftspartner und Gäste von letzter Woche eingeladen." Eine kurze Pause. "Stell dir vor, dein Bruder kam eben zu mir um mich das selbe zu fragen. Ihr seid euch doch so ähnlich." Juni täuschte ein Gähnen vor. "Ach, wie schön. Aber, Papi, ich bin so gerädert von den letzten Tagen. Können wir die Party nicht auf morgen verschieben?" Dann hätten sie ihn schon längst in ihrer Gewallt und dieser ganze Albtraum wäre vorbei, dachte sie grimmig. Ihr Vater seufzte, was sie bereits hoffen ließ, doch dann sagte er; "Ich weiß dass ihr Schreckliches bei diesen barbarischen Terroristen erleiden musstet, Schätzchen." Sie krallte die Finger in die Bettlaken. "Aber alle wollen euch gesund und munter wissen, sie machen sich alle enorme Sorgen. Sie werden erst Ruhe geben wenn sie euch mit eigenen Augen gesehen haben. Aber ich verspreche dir, ab Morgen ist das alles vorbei. Dann gebe ich euch so viel Zeit wie ihr wollt. Schließlich seid ihr mir das Wichtigste auf der Welt! Also dann, mach dich doch schonmal hübsch, Liebling. In zwei Stunden eröffnen wir die Feier zusammen. Als Famile." Juni rannen Tränen über sie Wangen. "Natürlich. Wie du meinst, Papa." Sie schaffte es ihre Stimme fröhlich klingen zu lassen bis sie sich verabschiedet und aufgelegt hatte. Dann sank sie in sich zusammen.

The Parrots - Eine RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt