Kapitel 2 - Piratenkönig

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Juni

Sie erwachte wie nach einem etwas zu ausgedehnten Nachmittagsschläfchen - mit müden Gliedern, trockenem Mund und völlig orientierungslos. Sie starrte im Halbschlaf an die niedrige Holzdecke. Bis ihr mit einem Ruck alles wieder einfiel. Sie fuhr hoch, bereit, sich zu verteidigen - doch sie war allein. Allein in einem kleinen Zimmer voller Bücher. Ein großes Regal, bestückt mit unzähligen bunten Bänden und vielen dünnen Heftchen, ein viereckiger Tisch, zwei Stühle und das schmale Bett, in dem sie saß. Keine Fenster. Nur eine Tür. Und alles aus Holz. Nach ein paar Sekunden realisierte sie dass auf dem Tisch ein Teller mit hoch aufgetürmten Pfannkuchen bereitstand, mitsamt Sirup und einem Glas Orangensaft. Juni fragte sich allen Ernstes, vielleicht tot zu sein. Welcher Entführer stellte einem ein solches Frühstück vor die Nase? Langsam krabbelte sie aus dem Bett, denn ihr Kopf brummte noch immer. Wo befand sie sich? Und wer hatte sie gefangen genommen? Was hatten sie mit ihr angestellt? Sie sah an sich herab - sie trug noch immer ihre Arbeitsklamotten. Wenigstens das. Automatisch arbeitete ihr Verstand auf Hochturen. Sie rief sich sämtliche Verhaltensregeln im Falle einer Entführung oder Geiselname in Erinnerung. Befahl sich, ruhig zu bleiben und nicht in Hysterie zu verfallen. Panik konnte ihr jetzt alles ruinieren. Ihre eingebläuten Verhaltensregeln sollten bereits im nächsten Augenblick die Möglichkeit bekommen genutzt zu werden.
Als sie gerade aufstand klickte es im Schloss der Tür, dann wurde diese schwungvoll aufgestoßen.
Sie wollte es nicht, doch sie zuckte bei dem Anblick des Mannes im Türrahmen zusammen. Er bot ein erschreckendes, jedoch beeindruckendes Bild; er war groß, schlank, um nicht dürr zu sagen, hatte strohblondes Haar, das er an den Seiten kurzrasiert und oben zu einem lässigen Zopf gedreht trug, so lang waren sie, und sein sehniger Körper war über und über mit schwarzen, eckigen Tattoos bedeckt. Er trug eine weite, ausgebeulte Militärhose, ein lockeres Hemd mit gebauschten Ärmeln und aufgeknöpftem Kragen, einige Ketten und Ringe - außerdem verbarg er sein Gesicht hinter einem Tuch, ebenso wie Junis Entführer. Er sah aus wie ein exzentrischer Pirat. Zu ihrer absoluten Überraschung trug der Mann jedoch lederne Slipper, die art von feinem Salonschleicher die sie am wenigsten bei einem Rebellen erwartet hätte - denn das war er, ohne Zweifel. Juni erkannte einen Rebellen sofort. Vor ihr stand einer der lästigen Wiederständler die am laufenden Band die Geschäfte ihres Vater zu behindern und unterbinden versuchten. Obwohl der Mann das Halstuch trug erkannte sie auf Anhieb dass er lachte. Seine warmen braunen Augen blitzten. Ihr fiel ein kleines Tattoo unter seinem rechten Auge auf - eine Art stilisierter Pfeil. "Also so sieht Joseph Campbells entzückende Tochter aus. Nett dich kennenzulernen. Darf ich Veronica sagen?", hörte sie zum ersten mal seine tiefe Stimme und sah dabei zu wie er die Tür hinter sich ins Schloss drückte und zweimal absperrte. Augenblicklich warf sie so ziemlich all ihre eben aufgestellten Vorsätze über Bord - denn wie beinahe immer war ihr Mund schneller als ihr Kopf. "Ich verzichte auf diesen lächerlichen Namen, danke. Wenn du Zigeuner mich schon anspreche musst, nenn mich Juni." Erst als die Worte bereits im kleinen Zimmer verklangen packte sie erschrockene Panik. Sie hatte soeben einen Verbrecher beleidigt. Einen vermutlich sehr gefährlichen Verbrecher. Der Mann starrte sie an.
Es waren lediglich Sekunden, die Juni jedoch wie eine Unendlichkeit an hektischem Herzklopfen erschienen.
Der Mann hielt ihren Blick fest, die braunen Augen starr und konzentriert. Würde er sie schlagen?
Beschimpfen?
Hungern lassen für diese Frechheit?
Beinahe gaben ihre Beine unter ihr nach, so sehr fürchtete sie sich davor für ihr loses Mundwerk zu bezahlen - doch dann legte sich erneut das selbstsicherer Grinsen auf seine faltenlosen Züge. "Interessant. Aber schön, da du, Juni, unser hochgeschätzter Gast bist und höchstmöglichen Luxus und Komfort genießen sollst gestalte ich dir deinen Aufenthalt hier größtenteils nach deinen Wünschen." Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. "Aber sei so freundlich und lass diese hässlichen Beleidigungen. Wir sind ein größtenteils gesitteter Haushalt." Er schritt im Zimmer auf und ab. Aufgrund ihrer eigenen strengen Erziehung erkannte sie seine aufrechte Haltung - die gesenkten Schultern, der gerade Rücken, das erhobene Kinn - sofort. Sie verschränkte die Arme. "Für mich würde eher das Wort >Geisel< zutreffen, glaube ich.", erwiderte sie nun kühner, denn seine Haltung verriet auch keinen Funken Ärger oder Aggression. Der Mann lachte in sich hinein. Er spazierte zum Tisch, auf dem noch immer die Pfannkuchen standen, und setzte sich auf einen der Stühle. Juni nahm kurzerhand den anderen. Nach einer kurzen Sekunde des Zögerns zog sie den Teller zu sich heran. Sie aß ein paar Bissen der leidergottes köstlichen Pfannkuchen, bis sie den Blick des Rebellen auf sich spürte. Sie sah ihn an. Es war offensichtlich wie groß ihr Hunger war. Wie lange sie wohl geschlafen hatte? Entführungen machten nunmal hungrig. Juni stach ein Stück ihrer Mahlzeit ab und spießte es auf. Hielt es ihm hin ohne seinem Blick auszuweichen. Doch der Mann schüttelte lediglich leise lachend den Kopf. Hätte ja klappen können, dachte sie und steckte sich die Gabel in den Mund. Der Rebell dachte gar nicht daran das Tuch abzunehmen. Mit einem Mal zog der Mann die Augenbrauen zusammen. "Du bist wirklich nicht das was ich mir vorgestellt habe.", platzte es schließlich aus ihm heraus. Sie hob eine Braue. "Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Wie hast du dir mich denn vorgestellt?" Er lehnte sich zurück. "Ich weiß nicht, vielleicht verängstigt? Verstört? Eingeschüchtert und verschlossen? So sehr, dass du keinen Hunger hast?" Er deutete auf Junis Teller. "Du weißt dass wir das leicht mit Betäubungsmittel hätten versetzen können?" Sie stockte einen Moment, bis ihr eine plausible Erklärung dazu einfiel so leichtsinnig gewesen zu sein. Sie wischte sich den Mund ab, schob den leeren Teller bei Seite und lächelte dünn. Ihr Gesicht fühlte sich steif an, doch sie zwang sich gelassen zu wirken. Auftritt war alles. "Das hätte euch wohl kaum was gebracht. Ich bin schließlich schon hier. Was wollt ihr noch? Oder habt ihr Angst dass ich mich im nichtnakotisierten Zustand befreien könnte? Denn dann seid ihr ziemlich schlecht vorbereitet auf das Ganze hier." Der Mann nickte geschlagen und lachte. Das Ganze hatte eher etwas von einem gemütlichen Kaffeekränzchen als einem Gespräch zwischen Geisel und Geiselnehmer. Weshalb sie allmählich das gesunde Maß an Vorsicht vergaß. "Also", begann sie und beugte sich über den Tisch. "So wie ich das sehe handelt es sich hier um eine Lösegeldforderung?" Der Mann neigte den Kopf. "Das hast du gut erkannt. Weshalb du auch in Ruhe hier sitzt und mit mir plauderst. Dein Bruder scheint mit weniger guter Auffassungsgabe gesegnet zu sein." Sie fuhr hoch und sah das Blitzen in seinen Augen. Jetzt hatte er sie. "Wie habt ihr Marley gekriegt? Geht's ihm gut?" Zu ihrem Ärger bebte ihre Stimme. Marley war der wichtigste Mensch in Junis Leben - auch wenn er sich oft genug wie ein Idiot benahm. "Mal ehrlich, dein Bruder lässt anscheinend lieber Taten sprechen. Selten ein dummes Verhalten beobachtet. Aber mach dir keine Sorgen, wir haben ihm bereits wieder schlafen gelegt." Seine Stimme war schneidend und triumphierend. Juni reagierte bevor sie sich selbst davon abhalten konnte - sie stemmte sich auf den Tisch, bekam den Mann am Kragen seines Hemds zu packen und wollte ihn zu sich ziehen. Jedoch hatte dieser bereits damit gerechnet. Er nahm Schwung, ließ sich elegant unter den Tisch fallen, riss sie so mit sich bis sie bäuchlinks auf dem Tisch aufkam und nach Luft schnappte, nur um dann neben ihr aufzutauchen und ihr die Hände auf dem Rücken zu fixieren. Und das alles innerhalb weniger Sekunden. Als er sich zu ihr hinabbeugte begriff Juni dass der Mann die freundliche Maske abgelegt und zum knallharten Soldaten geworden war, blitzschnell und nur aufgrund ihres dummen Wutausbruches. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Wange spüren als er sprach. "Weißt du, Juni, ich mag vielleicht so aussehen; aber ich bin kein kleiner Junge den man ausschimpfen kann weil er den Erwachsenen gegenüber frech wird. Wir sind keine Kinder die den großen Männern Dreck auf die Schuhe werfen." Sie bekam eine Gänsehaut als er sich vor sie kniete um ihr in die Augen sehen zu können. "Du hast es hier mit der größten Rebellion der bekannten Welt zu tun, kleine Campbell. Leg dich mit den Parrots an und du wirst es bereuen. Leg dich mit mir an und du hast ein Problem. Wenn du denkst ich mache halbe Sachen, hast du dich geschnitten."

The Parrots - Eine RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt