Kapitel 12 - Ein ganz normaler Tag im Verschlag

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Henry

Henry verließ nach den Frühstück das Hauptquartier - natürlich ohne Erlaubnis und nicht durch die Haustür.
Es war ein riskantes Unterfangen sein Glück sofort auf eine solch harte Probe zu stellen. Aber er hatte keine Wahl. Nachdem Juni auf ihn keineswegs wie eine Geisel wirkte, schon gar nicht wie eine Geißel die von einem Privatdetektiv gerettet werden wollte, musste Henry zusehen dass zumindest eines in dieser Mission gesichert war - und zwar sein Einkommen. Denn er mochte zwar ein seriöser Söldner sein, ein Dummkopf war er jedoch noch nie gewesen. Er ging gern auf Nummer sicher, und die momentane Situation war ihm eindeutig etwas zu vage. Es würde sich zeigen ob die Campbell Kinder gerettet werden wollten oder ob sie alle gründlich an der Nase herumführen. Henry würde sein Sold nicht so schnell wieder hergeben, egal wie sich die Mission entwickelte. Außerdem schmerzten Campbell die zwei Millionen kaum und Bruno erwartete ebenfalls seinen Anteil - danach würden sie sich zur Ruhe setzen können wenn sie wollten. Es musste nur alles glatt laufen - weshalb er auch in diesem Moment aus dem Fenster sprang.
Es hatte seine Vorteile bereits seit der Kindheit auf sich allein gestellt zu sein in einer Stadt die einem nichts verzieh - man lernte Handeln, Schläge austeilen und einstecken, Schießen, Klauen und mit offenen Augen zu schlafen. Und man lernte Klettern und Balancieren.
Henry stürzte, bekleidet in weiche, handgearbeitete Lederstiefel die ihm guten Halt gaben und seinem langen, dunklen Mantel dessen Kragen er gegen den Wind über der Stadt aufschlagen konnte, auf ein nahegelegenes Dach und rollte sich geschickt ab. Er blickte hinauf zu seinem Fenster. Fünf, vielleicht sechs Meter. Es wäre ein Leichtes an den verwitterten Holzbalken und unebenen Ziegelgrundwänden wieder hinaufzugelangen. Das Gute im Süden war die Bauweise der Häuser - der Verschlag lag inmitten von eng aneinanderliegenden, hohen Gebäuden mit Schindel- und Blechdächern auf denen es sich mit etwas Geschick problemlos laufen ließ. Zum Teil jedoch arbeitete Henry hart daran auf den steiler zulaufenden Schieferdächern, veredelt mit Türmchen und oxidierten Kupferbeschlägen die lediglich Kirchen und Kathedralen vorbehalten waren, nicht den Halt zu verlieren, doch es gelang ihm unentdeckt und unversehrt über die Dächer der Südstadt zu springen. Nach einer Weile erreichte er die kleine Schreinerei seines vermeintlichen Onkels. Henry stieg durch eines der immer geöffneten Dachfenster ein und fand sich in einem kleinen Schlafzimmer wieder. Überall lagen Bücher und Zeitungen. Ein paar Pflanzen standen in einem der rechteckigen Sonnenflecken die durch die Fenster fielen. Dieses Zimmer war das Seine. Denn er lebte wirklich gelegentlich hier - natürlich ohne dass jemand davon wusste. Ein Spion und Detektiv machte sich nicht immer nur Freunde. Doch Campbell hatte nach einer Adresse verlangt an der er das Geld hinterlassen solle und Henry hatte ihm die Werkstatt genannt. Campbell war es wahrscheinlich sowieso bekannt dass er den alten Majors stets als Deckung angab. Wieso also lange herumalbern? Henry strich sich das dunkle Haar aus dem Gesicht und sah sich einen Moment nostalgisch in seinem Zimmer um, denn nirgends fand er mehr Erholung als hier. Auf dem Boden lag ein Zeitungsausschnitt von einem sehr begabten Reporter. Dieser Reporter befand sich in diesem Moment bei den Parrots. Lachend steckte er den Artikel ein und stieg die engen Treppen durch das alte Haus hinunter in die Werkstatt. Durch ein ebenfalls stets geöffnetes Fenster war ein pralles Paket geworfen worden. Henry nahm es an sich, öffnete es und zählte flink die unzähligen Scheine. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, doch als er sich sicher sein konnte dass dieses Päckchen seinen vollen Lohn von zwei Millionen Kronen enthielt verschnürte er es erneut gut und verließ die leere Werkstatt. Wo Klark Majors, sein vermeintlicher Onkel, steckte vermochte er nicht zu sagen. Vermutlich machte er Besorgungen.
Henry verließ die Werkstatt durch den Laden und schloss hinter sich zweimal ab. Den Schlüssel versteckte er unter einem Stein. Dann machte er sich auf den Weg zurück zum Verschlag, diese Mal auf den Straßen von Quintis. Er ließ sich in den Menschenmassen treiben und verschwand zwischen Mänteln, Kutschen, Ostständen und unzähligen Menschen. Sollte ihm jemand gefolgt sein, wäre er ihn spätestens jetzt los. Am anderen Ende der Südstadt erklomm Henry ein nahegelegenes Gebäude. Dann nahm er Anlauf und warf sich mit allem Schwung den er aufbringen konnte hinüber an die alte Klinkermauer des Verschlags. Die Finger in die groben Ziegel gekrallt, hangelte er sich langsam hinauf zu seinem Fenster, das den Göttern sei Dank tief genug lag um noch Steinwände zu haben anstatt hölzerne Balken. Denn damit wäre es etwas schwierig geworden unbemerkt zurück in sein Zimmer zu gelangen. Und als er dieses erreichte, sich hineinschwang, das Geld anschließend hinter ein paar losen Ziegeln an der Außenmauer verbarg, ganz nah neben seinem Fenster - ein sehr schönes Versteck, das ihm zufällig aufgefallen war - war er heilfroh dass es keine Zwischenfälle gegeben hatte. Erleichtert und erschöpft zog Henry sich um, verbat sich jedoch ins Bett zu fallen. Es gab schließlich noch viel zutun.

The Parrots - Eine RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt