Kapitel 9 - Papageienparty

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Juni rauschte auf das Zimmer ihres Bruders zu, völlig furios darüber dass der Frischling es wagte sie anzufassen. Mit einem Mal hielt sie inne. Obwohl sie noch immer vor Ärger überschäumte musste sie ungläubig auflachen. Sie war doch selbst erst seit wenigen Tagen ein Parrot. Wie kam sie dazu jemanden als Frischling zu bezeichnen? Das war leichter zu beantworten als gedacht; sie fühlte sich Zuhause. In ihrem großen Herrenhaus mit den vielen Festigkeiten, noblen Dinnerpartys und dem hoch angesehenen Unterricht war ihr einziger Zufluchtsort die Werkstätten gewesen. Die Werkstätten und ihre Freunde dort. Juni dachte hundert Mal am Tag an sie. Sie vermisste den Ton zwischen den Fingern, die ausgelassene Stimmung, die harte Arbeit - natürlich wurde sie schmutzig, ihr Rücken schmerzte und teilweise werkelte sie sich die Finger wund, nur um die Schmerzen mit einem Glas Schnaps zu betäuben bevor sie sich Nachts zurück ins Herrenhaus stahl. Doch für diese Tage hatte sie gelebt.
So fühlte es sich hier im Verschlag an.
Echt.
Anstrengend aber echt.
Das würde sie nicht mehr so schnell hergeben.
Aber wie erklärte sie das Marley am besten? Sogut wie sich die Zwillinge auch verstanden, sie waren grundverschieden. Ebenso wie Juni das Barfußlaufen genoss liebte Marley ein gutes neues Paar Lederschuhe. Er würde ihre emotionalen Beweggründe nie verstehen. Also musste sie ihn mit harten, schrecklichen Fakten umstimmen.
Kurzentschlossen nahm sie den Schlüssel vom Türrahmen und schloss auf. Twila würde wie abgemacht Atlas Bescheid geben. Sie war befugt das hier zutun. Atlas vertraute ihr.
Als die Tür aufschwang sprang Marley von seinem Platz in einer der Zimmerecken auf. Er benutzte nichtmal das Bett. Er kam auf sie zu und sie ließ ihn gewähren als er sie umarmte. Juni war noch immer wütend auf ihn, selbstredend. Trotzdem; er war ihr Bruder. Marley begann ungebremst auf sie einzureden. "Den Göttern sei Dank, wie geht's dir, Juni? Alles in Ordnung? Was haben sie dir angetan? Was war das letztens? Wann war das überhaupt? Ist das schon ein paar Tage her? Ich hab mich doch nur verteidigt, das musst du mir glauben! Diese Rebellin wollte mich berühren." Juni gefielen die neuen Wesenszüge ihres Bruders gar nicht. Sanft schob sie ihn von sich und hielt ihn bei den Schultern fest. "Du solltest jetzt lieber langsam mal dein Hirn einschalten, Marley, oder du verhungerst, okay? Ich hab keine Lust Kindermädchen für dich zu spielen. Wir sind erwachsen. Also reiß dich verdammt nochmal zusammen." Doch Marley starrte sie noch immer fassungslos an. "Hast du gerade eigentlich alleine diese Tür da aufgeschlossen? Heißt das, wir können abhauen? Los, das schaffen wir!"
Als hätte er gar nichts gehört von dem was ich gesagt hab.
Juni hinderte ihn daran zur Tür zu sprinten. Er musste es erfahren. Jetzt. Sie holte tief Luft. "Nein, wir können nicht abhauen. Weil wir sonst sowieso nirgends hinkönnen." Marley erstarrte und hörte ihr nun endlich zu. Und dann erzählte sie ihrem Bruder von den grausamen Geschäften ihres Vaters - Menschenhandel, Korruption, Drogen- und Rauschgiftmissbrauch und noch so vielen weiteren Dingen, die sie sich gar nicht ausmalen konnte. Juni schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an und drückte den Rücken durch. "Unser Vater ist ein Verbrecher, Marley. Und ich werde keinem Mann zur Seite stehen der sein Geld mit dem Leid der Menschen verdient die seiner Meinung nach weniger Wert sind als er. Ich bleibe hier, Marley. Ob mit oder ohne dich." Marley sah sie lange an. Und als er zu lange keine Reaktion zeigte wandte sie sich ab und ging. Seufzend schloss sie ihn wieder ein. In einer Stunde würde sie wieder nach ihm sehen und eine Entscheidung von ihm verlangen - natürlich nur wenn er bis dahin noch nicht verhungert war.

Bruno

Henry benahm sich wie Henry immer schon gewesen war - ruhig, nachdenklich, verschlossen, kühl. Diese Eigenschaften halfen ihm seit jeher in seinem Job als Detektiv und Spion und waren zeitgleich ein unablegbarer Teil seiner Selbst. Bruno hätte sich seinen Freund gar nicht ausgelassen und albern vorstellen können. Und obwohl Henry das Geschehen um sich herum eher gefasst in sich aufnahm - was natürlich nicht hieß dass es ihn nicht interessierte - war Bruno im Gegensatz zu ihm völlig hin und weg. Bruno war nunmal eher der lockere Typ. Endlich mal wieder ein spannender Auftrag.
Die beiden bezogen zwei beinahe identische Zimmer, und da sie sowieso nicht viel bei sich hatten blieb es fürs erste bei den schmalen Betten, den Kommoden und den Wasch- sowie Schreibtischen. Henry zog sich in sein Zimmer zurück um sich etwas auszuruhen - nicht so Bruno. Er schloss hinter sich ab und ging sich den Verschlag ansehen. Verdeckte Ermittlungen wie diese lagen Bruno nicht so gut und seine Schauspielkünste ließen meist mehr als zu wünschen übrig, was ihn jedoch nicht davon abhielt durch das unglaublich verwinkelte, alte Gebäude zu streunern und staunend zu den Deckenbalken hinaufzublicken. Bruno erkundete enge Treppenaufgänge, gemütlich ausgestattete Erkerfensterbänke und drückte sich in Nischen herum in denen er alles mögliche fand - Staub, kleinen verhexten Schnickschnack, Staub, alte Postkarten, einen einzelnen Stiefel und viel, viel Staub. Als er sich gerade ein erstaunliches Gemälde an einer der Wände in einem besonders engen Gang ansah das viel zu wertvoll aussah als in einem Rebellenunterschlupf hängen zu dürfen bog jemand um die Ecke. Es erklangen schnelle, dumpfe Schritte auf dem alten Perserteppich. Als Bruno sich ihnen zuwandte kam ein großer, dünner Kerl auf ihn zu, vermutlich in seinem Alter. Obwohl er ein ziemlich beeindruckendes Bild abgab für einen jungen Erwachsenen; sein rotes Haar trug er streichholzkurz, seine helle Haut war gezeichnet mit unzähligen Brandnarben und als Bruno den Blick des Mannes im Halbdunkel des Flurs einfing jagte das flammende Blau seiner Iris einen Schock durch Brunos Körper. Doch er schüttelte die elektrisierte Starre ab und streckte den Fremden die Hand entgegen. Guter erster Eindruck und so. "Hi, äh, ich bin Bruno." Da der Mann im engen Flur nur schlecht am breitschultrigen Bruno vorbeigekommen wäre musste er schließlich - offensichtlich genervt - vor ihm stehen bleiben. "Tja, das freut mich für dich, Bruno. Würdest du mich jetzt durchlassen?" Brunos Hand beachtete er gar nicht, er starrte ihn lediglich an. Bruno spürte wie er unter dem eindringlichen Blick unruhig wurde. Er trat zur Seite. Der Mann drückte sich an Bruno vorbei und streifte dabei seinen Arm mit dem Handrücken. Er riss die Hand weg als hätte er sich verbrannt. Dabei war es Bruno der von der intensiven Wärme überrascht war, die die Haut des Fremden ausstrahlte. Verwundert blickte er ihm nach und ärgerte sich im nächsten Moment um dein fehlendes Rückrad. Wieso mussten die Leute nur immer so unfreundlich sein? Bruno war sehr schlecht im unfreundlichsein.
Schnaubend stieg er hinab ins Erdgeschoss - denn es gab bald Abendessen. Egal wie schlecht seine Stimmung auch war, der Hunger verging ihm nie.

In der Küche herrschte reger Betrieb - es wurde diskutiert wer wo zu sitzen hatte, Besteck fiel klimpernd zu Boden, Geschirr in allen möglichen Farben und Formen klirrte als es aufgestapelt und an den langen Holztisch geschafft wurde. Die an diesem Abend zuständigen Köche - ein großer, breiter Indianer und ein Mädchen mit braunem Haar das sie streng nach hintenfrisiert trug - handtierten mit Töpfen und Pfannen. Als sich das Mädchen einen kleinen Schnitt am Finger zuzog sah der Mann sie tadeln an, zögerte jedoch nicht lange und legte ihr seine Fingerspitzen auf. Im nächsten Augenblick blieb lediglich ein Tropfen Blut zurück - die Wunde war geheilt. Bruno staunte nicht schlecht. Heiler waren selten, vorallem solch talentierte. Er machte sich in Gedanken eine Notiz.
Bevor er jedoch sein Talent als Reporter und Spion noch weiter ausschöpfen konnte wurde er von jemandem bei den Schultern gepackt. Reflexartig zuckte er zusammen. Doch hinter ihm stand lediglich das blonde Mädchen von vorhin - er erinnerte sich sie bereits in der Küche gesehen zu haben als sie gerade angekommen waren. Er erlaubte sich auszuatmen. Das hübsche Mädchen lachte, ihre Stimme war hell und schön. "Wieso bist du denn so schreckhaft? Wie heißt du, Honigkind?" Bruno stockte kurz. "Bruno. Ich bin Bruno." Sie ließ ihn los und trat um ihn herum. "Wie nett dich kennenzulernen. Mich darfst du Twila nennen. Ich finde es toll dass wir zur Zeit so großen Zuwachs bekommen. Hast du schon die anderen kennengelernt?" Bruno zuckte die Schultern. "Nicht so richtig. Die Rothaarige und der Kerl mit den Narben sind mir begegnet." Twila winkte jemanden hinter ihm heran - und dann stand das Mädchen vor ihm, das lange Haar zu einem wirren Knoten am Hinterkopf gezwirbelt, die Klamotten praktisch. Twila legte ihr einen Arm um die Schultern. "Bruno, das ist Juni. Sie ist auch erst seit Kurzem dabei. Allerdings fühlt es sich an wie eine Ewigkeit." Juni grinste verlegen. "Freut mich, Bruno. Tut mir leid dass wir einen recht holprigen Start im Flur hatten. Dein Freund hat mich ein wenig überrumpelt."
Für gewöhnlich war Bruno ein äußerst loyaler Freund. Wirklich. Aber als das Mädchen - Juni - ihn an das Geschehnis im Dritten Stock erinnerte lachte er laut auf. "Du schuldest mir keine Erklärung. Aber ich glaube ich lege mich niemals mit dir an."
"Wieso sagen das ständig alle?"
Bevor sie sich weiterunterhalten konnten trug der große Mann einen ebenfalls großen Topf auf den Tisch, stellte ihn ab und legte drei große Schöpflöffel daneben. Bruno hatte noch nie so viele Menschen mit einem Mal verstummen und ihre Plätze am Tisch einnehmen sehen. Und ehe er sich versah wurde er an einen der letzten freien Plätze bugsiert und saß der einzigen Person gegenüber auf die er hätte verzichten können - dem Mann mit den vielen Narben. Der Rothaarige schien auch nicht sondern begeistert darüber - er sah kaum von seinem Teller auf. Bruno schalt sich ihn zu ignorieren und konzentrierte sich stattdessen auf andere Gespräche um ihn herum, bekam Eintopf und ein eindeutig alkoholische Getränk, reichte Brot herum, beantwortete gelegentliche Fragen und aß so gut und viel wie schon lange nicht mehr. In seiner kleinen Wohnstube machte das Essen allein kaum Freude - hier hingegen war schon das Abendessen ein Erlebnis das in die Geschichte seines Lebens eingehen würde. Alles war bunt, laut, ausgelassen, freundlich - am Kopf des Tisches saß Atlas und unterhielt sich mit einem schwarzhaarigen Mädchen. Der Anblick des Anführers erinnerte ihn dran sich ja nicht an all das hier zu gewöhnen - das hier war nichts weiter als ein Job, ein Auftrag bei dem reichlich Knete heraussprang. Apropos, dachte er Wo steckt eigentlich mein werter Partner der mir dieses ganze Dilemma eingebrockt hat?
Auf genau dies sprach ihn Atlas natürlich nach dem Abendessen an. Betont beiläufig zuckte Bruno die Schultern. "Henry ist ein wenig ... schüchtern was fremde Menschen angeht. Ich glaube er braucht ein paar Tage um aufzutauen. Das ist alles." Atlas schien nicht überzeugt. Doch er beließ es fürs erste dahei.
Bruno schaffte es tatsächlich beinahe mit jedem ein kurzes Gespräch zu führen. Lediglich der unfreundliche Mann zeigte keinerlei Interesse hier zu sein. Er starrte nur mürrisch auf die Tischplatte und trank ab und an etwas. Was auch Rowan, dem Mann der ihn und Henry hergebracht hatte, auffiel. Er klatschte provokant mit der flachen Hand auf den Tisch, die Zunge locker von zwei Bier und rief quer durch den Raum: "Hey Flint. Was ist denn mit dir los? Hast dich mal wieder angezündet?" Eine äußerst riskante Aktion. Bruno hätte sich nie so leichtfertig mit Flint - Flint, so hieß er also - angelegt. Doch dessen Lippen verzogen sich lediglich zu einem schmalen, humorlosen Lächeln. Elegant schnippte er mit den langen Fingern und kleine Flammen tanzten über seine Haut. Bruno schnappte nach Luft. Daher stammten also die vielen Verbrennungen. "Ich bin heute brandgefährlich drauf, Bruder.", knurrte Flint mit scharfem Unterton, ließ die Flammen erlöschen und erhob sich. Schnellen Schrittes verließ er die Küche. Atlas trommelte entnervt mit den Fingern auf die Tischplatte. "Du bist ein echter Komiker, Rowan." Dieser grinste verlegen. Bruno sah Flint nach - er war ein impulsiver, launische Feuerkrieger der seine Macht noch lange nicht unter Kontrolle hatte, schloss er in Gedanken den Artikel ab. Notiz: Halt dich von ihm fern. Ansonsten verbrennst du dich noch.

The Parrots - Eine RebellionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt