Kapitel 2
Novemberwind fuhr durch Eriks kurzgehaltenes Haar und drohte, Eiskristalle auf seiner Kopfhaut zu hinterlassen, noch bevor er die Haustür hinter sich zugezogen hatte. Fröstelnd wickelte er seine zu dünne Jacke fester um sich, während ihm zum wiederholten Mal die Frage durch den Kopf schoss, warum zur Hölle er sich auf diese dämliche Aktion eingelassen hatte.
Joggen. Im Winter. Mit jemanden, den er kaum kannte. Zugegebenermaßen wirkte Marco auf den ersten Blick recht nett, doch das machte es nicht besser. Eriks Erfahrungen nach ging die größte Gefahr von Menschen aus, die ihre wahren Ziele hinter einer charmanten Fassade verbargen.
Leise mit sich selbst debattierend bewältigte er das kurze Stück zum Boxstudio, ihrem vereinbarten Treffpunkt. Dort angekommen hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, in einem verzweifelten Versuch, sich warmzuhalten, bis sich sein Trainingspartner die Ehre gab, endlich seinen Hintern zu ihm zu bewegen.
Warum verschwand Erik nicht einfach? Noch hatte er die Gelegenheit dazu. Er konnte nach Hause gehen, sich irgendeine Ausrede gegenüber Marco einfallen lassen und das Ganze vergessen. Oder sich einfach gleich ein anderes Boxstudio suchen. Eines, in dem ihn die anderen ignorierten und sein Ding machen ließen. Eines, das ihn nicht dazu zwang, an seinen Problemen zu arbeiten.
Innerlich aufseufzend gab sich Erik seinem Schicksal hin. Letztendlich wusste er genau, weshalb er an diesem Tag in der Kälte stand. Weshalb er Marcos Vorschlag zustimmt hatte, obwohl sämtliche Warnsirenen in seinem Kopf schrillten. Sofern er jemals ein halbwegs normales Leben führen wollte, musste er wieder lernen Menschen an sich heranzulassen, ohne von Misstrauen oder Verlustängsten überwältigt zu werden. Marcos Einladung zum Joggen bot ihm genau diese Gelegenheit.
Gefallen musste das Erik deshalb allerdings noch lange nicht.
„Ciao!"
Erschrocken wirbelte Erik herum, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legte.
„Scusa." Marco trat einen Schritt zurück. „Ich wollte mich nicht an dich ranschleichen." Ein offenes Lächeln, dazu warme Augen unter buschigen Brauen – Marcos Gesicht mochte nicht als konventionell attraktiv gelten, aber es war eines, das man nur schwer nicht mögen konnte. Zusammen mit seiner herzlichen Ausstrahlung nahm es einiges von der Bedrohlichkeit, die sein restlicher Körper andernfalls vermittelt hätte. Tatsächlich registrierte Erik gerade zum ersten Mal, dass Marco zwar einige Kilo mehr an Muskelmasse mitbrachte als er selbst, dafür aber sicher gute fünfzehn Zentimeter kleiner ausfiel.
Marco hielt den Kopf geneigt, als lauschte er Eriks innerem Monolog. Pünktlich zu dessen Ende fragte er: „Also? Drehen wir eine Runde?"
„Mhm."
Gemeinsam verfielen sie in einen gemächlichen Trab, um ihre unterkühlten Muskeln zu wärmen, bevor sie anschließend im nahegelegenen Park das Tempo steigern wollten. Ein vernünftiger Plan, den sie nie in die Tat umsetzten.
„Porco ... Dio ... das ... darf ... doch ... nicht ... wahr ... sein." Vornübergebeugt sog Marco Luft in seine Lungen und hustete sie keuchend wieder aus.
Erik kniete neben ihm, die Hände gegen seine schmerzenden Seiten gepresst. „So viel zu ... meiner ... Kondition."
„Vier Tage ... pro Woche." Allmählich beruhigte sich Marcos Atmung. „Vier Tage pro Woche ... gehe ich zum Training. Und dann ... schaffe ich es nicht mal ... durch den Park?"
Die Worte waren raus, bevor Erik wirklich Zeit gehabt hatte über sie nachzudenken. Überrascht stellte er fest, dass ihm die Idee, das Lauftraining zu wiederholen, irgendwie gefiel. Sie hatten in der vergangenen Stunde nicht viel miteinander gesprochen – Atmen genoss einfach die höhere Priorität – aber die Ruhe zwischen ihnen war angenehm und Marco auf unkomplizierte Art witzig. „Also ... neuer Versuch am kommenden Samstag?"

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Wolken mit Tomatensoße
RomanceMarcos Leben läuft prächtig. Er hat einen Job, Freunde und eine Ersatzfamilie. Zugegeben, sein Liebesleben liegt derzeit ziemlich brach und dann ist da noch die Sache mit seiner richtigen Familie. Und warum hat eigentlich der Neuling im Boxstudio st...