Kapitel 6

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Was zuletzt geschah:
Daniel = Erik. Nicht einmal die schlimmsten Mathestunden konnten Marco mit ihren Gleichungen solches Kopfzerbrechen bereiten wie diese. Ratlos, wie er mit der Situation umgehen soll, was das für seine Gefühle für Daniel bedeutet und ob die zarten Freundschaftsbande mit Erik nun endgültig durchtrennt werden, tut er zunächst das einzig Offensichtliche: Nichts.

Kapitel 6

Unzufrieden zupfte Erik sein Hemd zurecht. Das kühle Grau passte ausgezeichnet zu seinen Augen, biss sich allerdings mit dem warmen Blond seiner Haare. Vielleicht doch lieber das blaue?

„Reiß du nochmal die Fresse auf, dass ich zu lange im Bad brauche." Breit grinsend lehnte Charlotte an Eriks Zimmertür; die von ihren Ohrläppchen baumelnden Kreolen wippten hypnotisch, als sie ihn von oben bis unten musterte. „Leck mich, feiert ihr Weihnachten echt in Anzug und Krawatte?"

„Keine Krawatte." Abwesend strich Erik eine Falte an seinem Hemdkragen glatt. „Aber meine Tante und mein Onkel schätzen eine gewisse, ah, Etikette bei ihren Familienfeiern."

„Klingt kacke."

Erik seufzte. „Ich könnte auch darauf verzichten. Der Rest der Familie kommt zum Glück erst morgen, also habe ich heute noch halbwegs Gnadenfrist. Was ist mit dir? Hast du dich entschieden, ob du bei deiner Mom vorbeischaust?"

„Habe ich und ich verzichte. Klar wäre es nett gewesen mal wieder etwas mehr Zeit mit ihr zu verbringen, aber ..." Ungeduldig ruckte Charlotte mit dem Kopf. „Seit drei Jahren erzählt sie mir, dass jetzt alles anders wird. Dass sie sich endlich von meinem Alten trennt. Dass er nicht mehr so viel trinkt. Dass sie nicht mehr so viel trinkt. Drei Jahre lang hab ich ihr geglaubt und drei Jahre lang waren die beiden hackedicht, noch bevor ich angekommen bin. Ich hab keine Lust, mir schon wieder Hoffnungen zu machen."

„Das verstehe ich."

„Ich mein, ich will auch nicht undankbar sein. Es gab ne Zeit, da war sie ne richtig klasse Mom. Ist lange vorbei, aber trotzdem. Wenigstens habe ich–" Charlotte verstummte, doch Erik erriet auch so, was sie hatte sagen wollen. Wenigstens habe ich eine Mutter.

In einem Versuch, sie beide aus dieser unangenehmen Situation zu retten und sich selbst etwas weniger unwohl in seiner Haut zu fühlen, schielte Erik zum Schrank. „Vielleicht komme ich doch mit einer Jeans durch, wenn sie einigermaßen ordentlich aussieht." Anstelle besagter Jeans zog er allerdings die elegante Weste hervor, die er vor einigen Wochen aus einem Impuls heraus gekauft und seither nicht ein einziges Mal getragen hatte. Er runzelte die Stirn. „Das wäre zu viel, oder?"

„Ist das nicht der Vorteil von uns Weibern und euch Homos?" Charlotte klang sichtlich erleichtert über den Themenwechsel. „Wir dürfen lang im Bad brauchen und ausgefallene Klamotten tragen."

„Ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll dir aufzuzählen, was an dem Satz gerade alles falsch war."

Grinsend pflückte Charlotte Erik die Weste aus der Hand und hielt sie ihm auffordernd unter die Nase. „Na los, schlüpf rein. Wir wissen beide, dass du es willst."

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Keine halbe Stunde später stand Erik gestriegelt, geschniegelt und aufbruchbereit vor seiner Wohnungstür. Allerdings gönnte er sich zuvor einen Augenblick, um sich mental auf die winterlichen Temperaturen und das Essen bei seiner Tante vorzubereiten. Was auch immer davon frostiger wurde.

„Schaust du später unten vorbei?" Aisha schien in ihrem übergroßen Wollpullover fast zu verschwinden.

„Mal sehen", antwortete Erik ausweichend. Sein Bedürfnis, der im unteren Stockwerk geplanten Weihnachtsfeier einen Besuch abzustatten, hielt sich arg in Grenzen. Die meisten der dort lebenden Jugendlichen kannte er höchstens flüchtig und auch, wenn er die Betreuer mochte und ihre Arbeit schätzte, verzichtete er lieber darauf, mit ihnen auf heile Familie zu machen. Seine Familie würde nie wieder heil sein. „Je nachdem, wann ich zurückkomme."

Wolken mit TomatensoßeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt