21. K A P I T E L ║ Vorbereitung
»Ja, N war ein toller König.«
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»Ich bin wahnsinnig.« Cheren atmete tief ein und aus. Die breite Flügeltür direkt vor ihm war geschlossen und wirkte so gar nicht einladend auf ihn. Er nahm die Hände schnell wieder zurück, als wären die Türknäufe so heiß wie glimmende Kohle. Was in aller Welt veranlasste ihn dazu, dieses Risiko einzugehen? Todesangst vielleicht. Nach einem Schulterzucken, mit dem er alle Sorgen über Bord warf, legte er seine Hände wieder auf das vergoldete Metall, »Hab eh nichts mehr zu verlieren«, und schob die Tür auf.
Gespielt heiter tänzelte er in den Gemeinschaftsraum der Soldaten und rief laut: »Hey Leute!« Unzählige feindselige Augenpaare richteten sich auf ihn. Einer griff sogar nach seinem Schwert. Er war ja bloß der Informatiker. Ein Ex-Trainer und somit offizieller Feind. »Äh... Hat wer Bock auf 'nen Serienabend? Mein Fernseher ist internetfähig – ich konnte die Sperre umgehen.« Er grinste unsicher und merkte, wie sein Gesicht rot wurde. Die linke Hand klebte noch immer am Türknauf und riss ihn beinahe aus der Fassung. Wenn niemand reagierte, war er sowas von unten durch bei den Soldaten. Das passte aber nicht in seinen Plan.Liam stürmte zuerst auf ihn zu, der Rest der Meute quetschte sich eine halbe Sekunde später durch die Tür und veranstaltete ein Wettrennen zu Cherens Gemach. Als er zuletzt durch seine Tür ging, war das Bett bereits besetzt. Die anderen lag mit Kissen und Decken am Boden. Ein ganz rebellischer machte es sich auf der Kommode bequem. Das ganze Zimmer war voll. »Oha.« Das ging ja schneller als gedacht.
Cheren schloss die Tür hinter sich und blinzelte aufgeregt. So etwas wie Lampenfieber ließ seine Knie weich werden. »Äh... Ist irgendwo noch Platz?« Die Stille war unerträglich. Liam, der auf dem Bett saß, rückte ein Stück und klopfte auf die Matratze. »Ja, komm her. Wir sind ja platzsparend.« Als Cheren vorsichtig durch das Zimmer stelzte und versuchte, niemanden zu treten, sah man ihn eindringlich an. Und es war noch immer unerträglich still.
Aber mit Serien konnte man sie kriegen, das wusste er nun. Als er endlich zwischen den sechs-sieben Soldaten auf dem Bett saß, seufzte er zufrieden und ließ seine Hände auf die Beine fallen. »Können wir uns überhaupt auf etwas einigen? Also ich kann euch ›How I met your mother‹ empfehlen. Ist echt witzig und wir haben einige Staffeln vor uns. Jemand interessiert?« Er sah in die Runde.
Viele nickten, andere zuckten halbwegs zufrieden mit den Schultern, also machte Cheren es sich bequem und loggte sich mit der Fernbedienung ein.Es war Samstag. Am nächsten Tag das gleiche Spiel. Einige wechselten kurz ein Wort mit Cheren, man ignorierte ihn nicht mehr komplett. Um halb zwölf in der Nacht, als sie schon einige Folgen geschafft hatten und die Stimmung locker war, stand Cheren wortlos auf und schlich zur Tür. Die Soldaten nahmen das als Abschluss auf und beschwerten sich leise. Darauf hatte er gewartet. »He, ich wollte eigentlich in die Speisekammer. Wer kommt mit und hilft mir mit dem Tragen?« Ein Blick zurück ins Zimmer bestätigte, dass er seinem Ziel näherkam. Gut die Hälfte der Anwesenden zeigte auf. Alle von ihnen schienen glücklich über den Plan zu sein und strahlten wie verhungerte Kinder, denen man Schokolade vor die Nase hielt.
»Wir dürfen uns nicht erwischen lassen.« Cheren grinste. Er war wirklich wahnsinnig.Aus dem Schloss zu entkommen, war nicht so einfach. Vor allem, wenn man keine Verbündeten hatte.
***
Dieser Moment, wenn man kurz vor dem Einschlafen war und plötzlich eine Frage im Kopf auftauchte, die einem keine Ruhe ließ. Touko drehte sich auf den Rücken und starrte angestrengt in den funkelnden Sternenhimmel, der durch die Bäume hindurchschimmerte. Neben ihr brannte ein kleines Feuer, qualmend und knisternd. Normalerweise googelte sie diese Fragen immer, damit sie schlafen konnte, doch hier gab es weder Empfang, noch war das Internet der richtige Ort, um sich diese Frage zu beantworten. »N?«
»Ja?« Etwas neben ihr bewegte sich. Es war nicht N, sondern eines der zehn Kukmarda, die ihn belagerten und in aller Ruhe an seinem Körper gedrängt schliefen. Keldeo war zu seinen Zieheltern gekrochen, als es ihm zu viel wurde. Die Pokémon schienen Ns Präsenz zu genießen und kamen mit dem Einbruch der Nacht aus dem dichten Wald gekrochen, um sich dazuzugesellen.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte sie weiter, den Blick noch immer auf den Sternenhimmel gerichtet.
»Einundzwanzig. In ein paar Monaten zweiundzwanzig.«
Sie bemerkte, dass er sie schon eine ganze Weile ansah und lächelte. »Wirklich? Hätte ich nicht gedacht. Als ich vor einem Jahr dein Zimmer im Schloss gefunden habe, dachte ich, dass du viel jünger wärst. Zumindest wirkst du so, siehst aber schon wie ein Zwanzigjähriger aus.«
»Meinst du wegen den Spielsachen?«, fragte er mit einem Hauch Unbehagen in der Stimme.
Touko legte sich auf die Seite, damit sie ihn ansehen konnte, strich eine Strähne aus ihrem Gesicht. »Ja, das war der Grund«, sagte sie sanft und lächelte. »Aber keine Sorge. Ich habe meinen alten Teddy auch noch. Mama denkt, dass ich ihn mit dreizehn weggeworfen habe.«
N erwiderte ihr Lächeln und kraulte das Fell eines schlafenden Kukmarda, das sich auf seinem Bauch zusammengerollt hatte. »Ich hatte eine Modelleisenbahn. Sie war fantastisch. Ich wünschte, ich hätte sie hier. G-Cis hat sie bestimmt schon zerstört.« Das Feuer warf Schatten auf seine gekräuselte Stirn.
»Dort war auch ein Basketballkorb und eine Halfpipe«, bemerkte Touko, versuchte sich an die Kammer im Schloss zu erinnern.
Sein Gesicht begann zu strahlen, als er von seinen Hobbys erzählte: »Oh ja, ich fahre Skateboard! Ziemlich gut sogar! Frontside Smith-Grind, Wallies, Nollie Inward Heelflip - alles kein Problem! Und manchmal habe ich das mit dem Basketballspielen verbunden, weil ich mich so gelangweilt habe. Ständig allein in einem Zimmer zu sein ist ziemlich erbärmlich... Wenn du wüsstest, was ich dort alles angestellt habe...« Sein Blick änderte sich wieder. »Dieser Ort steckt voller dunkler Erinnerungen. Sie sind bedrückend und betäubend. Jedoch verbinde ich auch gute Dinge mit diesem Raum, aber«, er stockte und versuchte die passenden Worte zu finden, »ich will nie wieder dort hinein. Selbst für die Modelleisenbahn nicht.«
Touko spürte förmlich die erdrückende Atmosphäre und die Angst, die er damals wohl empfunden haben musste. All das Spielzeug konnte natürlich nicht die zwischenmenschlichen Beziehungen ersetzen, die ein jeder Mensch brauchte. Selbst ein Mensch, der bei Pokémon aufgewachsen war.
Sie robbte an dem Feuer vorbei und verscheuchte die Kukmarda, damit sie sich zu N legen konnte und nicht ständig angefaucht wurde. Vorsichtig platzierte sie ihren Kopf auf seiner Schulter, eine Hand auf seiner Brust. Er schmiegte sich an sie und seufzte leise. »Touko, bin ich wirklich so seltsam?«, fragte er flüsternd. Die Sache schien ihn sehr zu beschäftigen.
»Ja. Du bist absolut verrückt.« Sie wartete einen Moment und merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. »Aber genau aus diesem Grund liebe ich dich, N. Die besten Menschen auf der Welt sind eben verrückt.«
»Wirklich?«, hauchte er.
»Ja.« Touko hob ihren Kopf und sah in an. Nun musterte er angestrengt die Sterne.
»Es ist bloß ungewohnt, von einem Menschen geliebt zu werden. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie glaube ich, dass ich das gar nicht verdiene«, sagte er nüchtern, ohne auch nur ein bisschen traurig zu klingen.
Touko atmete laut ein und versenkte ihren Kopf in seinem Hemd. »Oh, N! Lass das, ich heule gleich!«
»Ich will mich nie wieder mit dir streiten.«
Sie spürte seine warme Hand auf ihrem Rücken. »Wir werden uns sicher noch oft streiten, N. Aber das ist ja nicht schlimm. Das ist kein Grund sich zu trennen, so wie die Vollidioten aus der Legende.« Sie schnaubte belustigt und hoffte, dass das die Stimmung etwas lockerte. N gähnte ausgelassen und legte seinen Kopf an ihren. »Na, wenn du das sagst... Du bist immerhin der Menschenprofi Zwei Punkt Null.«
Sie grunzte amüsiert und hob ihren Kopf. »Ach ja!« Die Situation in Johnnys Lokal war so witzig gewesen, dass sie mit dem Gedanken spielte, ihn gleich morgen in das nächste zu schleppen und auf weitere Biker zu hetzen.
»Touko?«, machte N plötzlich und riss sie aus ihren herrlich amüsanten Gedanken.
»Ja?«
»Für einen Menschen bist du wirklich okay«, flüsterte er schnell und zog an ihren Haaren, weil er mit einem Finger hängengeblieben war und ihn nicht mehr aus der Strähne herausbekam.
»Du kannst ruhig sagen, dass du mich auch liebst«, murmelte Touko augenverdrehend und half ihm wie eine überforderte Mutter dabei, sich zu entwirren. Nach diversen anstrengenden Verrenkungen fiel sie wieder kraftlos auf seine Brust und wartete still auf eine Antwort.
»Ich liebe dich nicht nur, Touko. Ähm... Weißt du, unter Pokémon gibt es noch etwas anderes. Es ist viel mehr als das, was Menschen unter Liebe verstehen«, begann N zu erzählen und Touko bekam eine Gänsehaut. Nicht etwa, weil es so schön war, was er sagte, sondern weil es überhaupt nicht zu ihm passte und dadurch noch viel mehr Bedeutung gewann. Sie hörte gespannt zu. »Ich weiß nicht, wie ich das übersetzen soll. Es ist ein Gefühl der tiefen Verbundenheit. ›Ich erkenne dich, unsere Seelen sind eins.‹ So etwa in der Art nennen sie es. Verstehst du, was ich meine?«
Nun wartete er auf eine Antwort und Touko suchte nach Worten, die weder verletzend, noch eine Lüge waren. »Ein bisschen, vielleicht?«, schlussfolgerte sie nach einer Denkpause, die Augenbrauen entschuldigend nach oben gezogen.
N betrachtete sie mit großen Augen. »Du spürst doch sicher eine Verbindung zu Zekrom, oder?«
»Ja«, antwortete sie ohne zu zögern. Da war dieses Band zwischen ihnen, das sie beinahe zu ein und demselben Wesen machten. Eine Energie, die alles durchdrang. Selbst in diesem Moment spürte sie Zekroms mächtige Gegenwart.
»So in der Art. Nur viel stärker.«
Touko kräuselte ihre Stirn. Noch nie hatte sie darüber nachgedacht, dass es diese Verbindung auch zwischen Menschen geben konnte. Aber war es noch stärker als das, was sie mit Zekrom vereinte? Wie konnte das sein? Nannte man dies vielleicht bedingungslose Liebe? »Oh, jetzt wo du es sagst...« Hinter diesem vergänglichen Kribbeln konnte tatsächlich mehr sein. Irgendetwas, was sie dazu bewegt hatte, Gefallen an diesem verrückten Spinner zu finden. Trotz seiner Familie, Vergangenheit und Art. Und trotz der Frisur. Aber auch ihre Freunde liebte die bedingungslos, und ihre Mutter. Für diese Menschen würde sie sterben. Einfach so, ohne Grund. Weil sie sie liebte.
»Könntet ihr bitte leise diskutieren, ich will schlafen, danke.« Diese Gedanken tauchten mehr als laut in ihrem Kopf auf und ließen sie aufschrecken. Auch N hob seinen Kopf und sah über das knisternde Feuer hinweg zu Zoroark, das sich gerade mies gelaunt umdrehte und knurrte.
»Sorry, Pokébro. Zeit zu schlafen«, meinte Touko nickend und rollte sich sofort neben N ein. Frage beantwortet, N war zwei-drei Jahre älter als sie, jetzt konnte sie in aller Seelenruhe schlafen.
Er streckte sich zunächst und stimmte dem Vorschlag zu, doch dann legte er plötzlich ein Bein und einen Arm über sie und zog Touko an sich heran.
»Was wird das, wenn's fertig-«, begann Touko verwirrt, doch sparte sich den Rest, als sie bemerkte, dass ihr gemütlich warm wurde. Die Nacht war kalt, N nicht. »Danke.«
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ℕatural Numbers [ Pokémon Schwarz / Weiß ]
Fanfiction»Touko, Mathematik ist überall. In der Natur, in jedem Lebewesen, in allem, was geschehen ist und noch geschehen wird. Wir können als Beobachter den Lauf der Dinge berechnen und in Formeln ausdrücken. Aber es ist unmöglich, die Zahlen des Schicksals...