Buße

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EPILOG

»Buße«


Das kalte Metall presste sich gegen Haut, bis sie nachgab und langsam aufklaffte. Eine rote Flüssigkeit drang heraus, benetzte die Klinge, lief an einem blassen Arm herunter, tropfte auf Fliesen.
Er verkrampfte seinen Kiefer, bildete eine Faust.
Dann setzte er noch einmal an.

Der nächste Tag brach viel zu früh an. Sie begrüßte ihn mit einem freudestrahlenden Lächeln in der Küche. Ein Kreuz an der Wand, mit frischen Blumen. Ein Spitzendeckchen auf dem Frühstückstisch.
»Guten Morgen. Du siehst müde aus. Hast du nicht gut geschlafen?« Sie hatte eine halbe Sekunde lang auf seinen Arm geschaut. Sie wusste es, ignorierte es und lächelte. »Setze dich, ich habe gerade den Tee aufgebrüht.«
Er setzte sich. Die Schmerzen in seinem rechten Arm waren befreiend. Irgendwann würde er ihn vielleicht ganz abscheiden – und damit auch das Monster in ihm.
»Hast du deine Hausaufgaben erledigt?«, fragte sie, goss etwas Tee in seine Tasse.
Er nickte, griff nach dem Henkel, während sie an der Küche weiterarbeitete.
»Die Extraaufgaben?« Sie sah sich nicht um zu ihm. Erst als er eine Sekunde zu lang zögerte, hielt sie inne bewegte sie ihren Kopf leicht.
Sein Herz begann zu rasen. »Ich bin noch nicht ganz fertig.«
Das Spültuch landete geräuschvoll auf der Küchenzeile. »Du wirst doch wohl nicht nachlassen?«, zischte sie.
»Natürlich nicht«, erwiderte er schnell und trank einen Schluck. Sein Arm zitterte und das Hemd färbte sich an einer Stelle rot.
Es war auszuhalten.

***

»Der spinnt. Voll der Streber und hat total einen an der Klatsche.« Die Gruppe hatte sich wieder entfernt, doch er hörte genau, was sie sagten.
Wenn sie wüssten, dass sie wehrlos waren und nicht er. Doch das wussten sie nicht. Sie durften es nicht.
»So ein Freak. Wir sollten ihm eine Lektion erteilen.«
Diese Blicke. Er kehrte schnell um und ging zügig die Straße herunter. Meine Güte, sie waren fast erwachsen, warum taten sie so etwas überhaupt noch?
Er hörte Schritte hinter sich, versuchte ruhig zu bleiben. Zu rennen wäre fatal gewesen. Es war ohnehin schon zu spät.
Verdammt.
Jemand riss an seinem Rucksack und zog ihn so heftig zurück, dass er fiel. Die Jungen stellten sich um ihn und lachten. Sie verletzten ihn. Mit verspotteten Blicken, Tritten und ihren Worten.
Er wusste, dass er anders war. Sie wussten es auch.

Er blieb auf der Straße liegen und zitterte. Jede kleinste Bewegung könnte sie dazu provozieren, abermals auf ihn einzudreschen. Sie warteten darauf. Auf eine Reaktion.
Er hatte Angst.
»Oh, guck mal! Der heult ja!«
Ihre Überlegenheit erdrückte ihn.

Die Schmerzen hatte er verdient, denn er war ein Monster. Ein Scheusal in Menschengestalt. Alle anderen konnten sich gut mit den Systemen der Gesellschaft arrangieren, doch er wanderte stets außerhalb.

Ein Picochilla tauchte auf. Er dachte, dass sie es herbeigerufen hätten, um ihn anzugreifen. Doch er täuschte sich, denn es war wild. Und doch schrie es laut und versuchte die Gruppe zu vertreiben.
Er hob verwundert seinen Kopf, war gerührt, bedankte sich.

Sie lachten darüber, traten einmal auf das Pokémon ein und fingen es.

War er wirklich das Monster? Oder waren sie es?

***

»Kontrolliere dich, du wertloses Stück!« Er wehrte sich nicht, als sie zuschlug. »Wage es nicht, dich noch einmal so zu verhalten!« Sie rieb sich die Handinnenfläche, während eine Träne an den Falten ihres Gesichts herunter wanderte.
»I-Ich kann nichts dagegen tun. Selbst wenn ich es ihnen sage, hören sie nicht auf mich. Sie kommen einfach.« Wilde Pokémon. Immer und immer wieder.
Sie schlug erneut zu. Dieses Mal heftiger. Es war ein Ausdruck der Angst. Genau dieser zeichnete sich auch auf ihrem Gesicht ab. »Hör auf so zu tun, als könntest du mit ihnen sprechen! Sorge dafür, dass sie nicht kommen! Ich will sie nicht auf meinem Grundstück haben! Vertreibe sie! Töte sie, wenn sie nicht gehen!«, schrie sie aus voller Kehle. Eine Vase flog gegen die Wand und zersprang in tausend Scherben. Der rote Teppich färbte sich dunkel, als das Wasser darin verschwand.
Er nickte schnell, sah nach unten.

ℕatural Numbers  [ Pokémon Schwarz / Weiß ]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt