Verstand

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25. K A P I T E L ║Verstand

»Holen wir uns das zurück, was er uns genommen hat! «




Geleerte Schubladen. Der Inhalt am Boden verteilt. G-Cis schleuderte mit einer kräftigen Handbewegung Bücher, Stifte und Kerzenständer von seinem Schreibtisch, bevor er zähneknirschend in den Spiegel sah. Sein Atem ging schwer, seine linke Hand zitterte. Die andere war wie immer unter seinen langen Gewändern versteckt.

Was nicht ohne Folgen aus der Welt geschafft werden konnte, musste eben versteckt werden. Egal wie mühselig es war und wie lang es dauern würde, bis es aus dem Gedächtnis der anderen verschwinden würde...
Vorsichtig hob er seinen rechten Arm und betrachtete den Handschuh, in den er gehüllt war. Das dunkle Leder versteckte auch noch seinen Ellenbogen und einen Teil des Oberarms. G-Cis zog daran und ließ die Hülle fallen. Narben kamen zum Vorschein. Es waren nicht viele und sie schränkten ihn in keiner Weise ein, da sie nur eine Maske waren. Sie erinnerten ihn daran, dass er ein verabscheuungswürdiges Scheusal war.
Der Spiegel zersplitterte. Kleine Scherben bohrten sich in das Fleisch seiner Faust. Es war ihm egal. Doch das warme Blut betrachtete er mit noch mehr Hass als sein Spiegelbild, denn es war unrein und falsch.
Das Foto war verschwunden. Weder in den Schubladen befand sich es, noch in seinen verbliebenen Tagebüchern. Und selbst davon waren einige spurlos verschwunden, obwohl er stets Acht auf sie gegeben hatte. Es waren genau die Bücher, die das dokumentierten, was er verstecken wollte. Viele würden sterben, wenn sein Geheimnis ans Licht kam – durch seine unverhüllte rechte Hand.

Zwei weitere Spiegelscherben fielen zu Boden. Die eine zerbrach in drei Stücke, die andere in fünf. G-Cis wich erschrocken zurück und griff schnell nach dem Handschuh, als hätte er einen Geist gesehen. Als sein Arm, die Erinnerung, verhüllt war, konnte er wieder atmen. Sein Herz klopfte heftig.
»Selbst jetzt verfolgst du mich noch...« Er verließ den Raum langsam. Doch eigentlich war ihm eher nach Rennen zumute.

***

»Bist du in ihn verliebt?« Der Abdruck auf Liams Wange bestätigte, dass er vor sieben Minuten mit einer stützenden Faust im Gesicht eingenickt war. Dies gönnte er sich auch, denn er hatte die ganze Zeit über Cheren gewacht. Auch nachts war er nicht von seiner Seite gewichen. Sein Zustand verbesserte sich langsam.
»Nein.« Rosy zog eine Fratze und betrachtete das blasse Gesicht, das halb unter der Decke des Krankenbettes verschwand. Es war ein gutes Zeichen, dass sich Cheren schon wieder herumwälzte. »Ist nicht mein Typ.«
»Ah«, machte Liam belustigt und lehnte sich etwas zurück. Der Stuhl kippte fast nach hinten, doch er konnte gerade noch das Gleichgewicht halten. »Stimmt ja. Du stehst ja auf lange grüne Haare und blaue Augen!« Als ein Kissen, von Rosy geworfen, mit der Wucht eines Hyperstrahls sein Gesicht traf, kippte er und krachte mit einem lauten Geräusch auf den Boden.
»O entschuldige!« Rosy eilte ihm zur Hilfe, musste aber lachen, als sie ihn dort liegen sah. Knie neben den Ohren, Hintern in der Höhe. Sie wusste gar nicht, dass er so gelenkig war. »Tja, das war Schicksal. Du solltest niemals Dinge behaupten, die nicht stimmen!« Liam nahm die Hilfe an und griff nach ihrer Hand, die ihn langsam wieder hochzog. Als er auf den Füßen war, ließ er sie nicht los, sondern drückte noch fester zu, damit Rosy ihm ins Gesicht sah. Anschließend flüsterte er drei Worte, die wie ein Zauberspruch aus Harry Potter klangen: »Natural Harmonia Gropius.«
Rosy versuchte angestrengt, seine Finger von ihrer Hand zu lösen, doch er hielt sie weiterhin fest und sah zudem auch noch, wie rot sie wurde. »Liam! Lass mich in Ruhe!«
Er lachte laut auf, ließ los, damit sie das Zimmer verlassen konnte. Mit aufgeblasenen Backen stampfte sie hinaus und haute die Tür so kräftig zu, dass etwas Staub von der hohen Schlossdecke rieselte. »Schon gut, schon gut! Ist ja völlig okay!«, rief Liam ihr hinterher.
Dreizehn Sekunden später kam ein anderer Soldat hinein. Er blinzelte verwirrt und spitzte seine Lippen. »Ähm... Was hat Rosy denn?«
»Wieso?« Liam stellte seinen Stuhl zurück auf die Beine und setzte sich mit einer aufgesetzten Unschuldsmiene.
»Sie ist total wütend und trabt gerade den Flur entlang.«
»Ach...« Er winkte ab und verzog seine Mundwinkel. »Ich habe bloß wieder die drei Worte gesagt.«
»Alles klar.« Die Tür wurde wieder verschlossen. Ein paar Soldaten schoben seit gestern Wache - in der Hoffnung, dass nicht auffallen würde, dass sie das Zimmer für sich beansprucht hatten, um Cheren ein paar Stunden darin ruhen zu lassen. Spätestens wenn sich G-Cis wieder zum Verlies begab, würde ihr Rettungsversuch auffliegen.

ℕatural Numbers  [ Pokémon Schwarz / Weiß ]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt