Gefangen in dir

1 - Ein letzter Wunsch

Jeder hat eine Geschichte, die ihn zu der Person gemacht hat, die er heute ist. Manche Menschen bringen dir bei, Mauern um dich zu bauen. Andere bringen dir bei, diese zu durchbrechen.
Wir lernen Distanz einzusetzen. Aber auch, uns von uns selbst zu distanzieren.
Doch wie will man sich vor seinen eigenen Gefühlen beschützen, wenn sie zu deinem größten Feind werden?

~demez34

Als ich den Anruf erhielt, ließ ich alles stehen und raste mit Herzklopfen los.
Unruhe entfachte in mir. Es sollte bitte nichts Schlimmes passiert sein.
Den halbstündigen Weg durchfuhr ich in zwanzig Minuten. Meinen Wagen ließ ich am Parkstreifen ab und hastete los.
Raschelnde Blätter zogen sich sich an mir vorbei, als ich den gepflasterten Weg zur Haustür überquerte. Die warme Nachmittagssonne glühte am Himmel.

Dieses Ort, war gefüllt von unterschiedlichsten Erinnerungen. Der Besuch in das Haus, glich dem Fund einer Schatztruhe, die wertvolle Diamanten in sich verbarg.
Jeden Zentimeter der hängenden Fotos an der Wand, kannte ich auswendig. Sogar blind könnte ich mich in dem Haus zurechtfinden. Alles war noch wie damals. Selbst die robusten Massivholzmöbel wurden in Jahren nicht ausgetauscht.
Das Haus strahlte Wohlbefinden und Geborgenheit für mich aus, denn sie hatte meine Kindheit geprägt.
Und die Hüterin des Schatzes war das wertvollste in dem Haus: Tante Nevin.

Die Haushälterin ließ mich herein und teilte mit, dass sich Tante Nevin im Wohnzimmer befand. Auf der Couch liegend, betrachtete sie die prachtvolle Aussicht aus den Panoramafenstern.
„Meine liebe Asel.", begann ihr müdes Gesicht zu strahlen. Sofort übertrug sich ihre optimistische Ausstrahlung auf mich.
„Tante Nevin! Ich habe mir so viele Sorgen um dich gemacht!"
Besorgt umfasste ich ihre warmen Hände.
„Fatima hat dich informiert, oder?"
„Natürlich."
Tante Nevin meinte nur, dass ihr Blutzuckerspiegel gesunken sei, doch dass es sich in letzter Zeit vermehrte, kam mir verdächtig vor.

„Wollen wir Kaffee trinken?", bot Tante Nevin an, worauf ich nickte.
„Wie geht es dir, meine Liebe? Lief das letzte Gerichtsverfahren gut?"
„Ja, alles lief Gott sei Dank gut. Wir haben das Verfahren gewonnen."
In der Zwischenzeit kamen unsere Kaffees an. Danken nahm ich die kleine Porzellantasse entgegen. Fatima begann im Haus zu arbeiten, als Tante Nevin erfuhr, dass sie in ihrer Heimat zwangsverheiratet werden sollte. Heute ist Fatima Mutter von zwei Engeln. Tante Nevin war eine kühne Gerechtigkeitskämpferin.

Nachdem die Kaffees getrunken wurden, legte Tante Nevin ihren Gebetsteppich aus und verrichtete das Nachmittagsgebet. Auf den Garten ging ich, obwohl ich wusste, dass sie meine Anwesenheit nicht stören würde.
Heute wirkte sie angespannt und bekümmert. Etwas lag ihr scheinbar am Herzen.
„Komm her, meine Liebe. Eigentlich bist du zur richtigen Zeit gekommen. Es gibt etwas, dass ich dir zeigen wollte.", winkte sie mich rein.

Ein altes Fotoalbum kam zur Geltung.
„Schau mal, was ich letztlich gefunden habe.", schlug sie das dicke Album auf.
„Ich glaub's nicht! Die Bilder aus meinem sechsten Kindergeburtstag, die beim Umzug verloren gegangen sind!"
„Sogar eine Biene wollte dich an dem Tag  beschenken. Nachdem sie dich stach, hast du lange geweint."
„Jetzt erinnere ich mich daran. Keiner konnte mich beruhigen."
Sie blätterte weiter. Fotos, auf denen ich weinte wurden geknipst. Die Krone auf meinem Kopf war verrutscht und hing schief.

„Bis Cihangir kam und dir eine Tüte Eis brachte.", fügte Tante Nevin hinzu. Kurz erstarrte ich, als ich seinen Namen hörte. Seinen melodisch klingenden Namen, hatte ich Ewigkeiten nicht gehört. Mit dem Zeigefinger deutete Tante Nevin auf das Foto, auf dem mein Wimmern aufgehört hatte und meine Augen Cihan fixierten, während er Eis auf meinen Arm tupfte.
„Nimm die Fotos als ein schönes Andenken mit."
Auf dem ersten Bild waren Cihan und ich abgebildet, während er die schiefe Krone auf meinem Kopf richtete und ich unter Tränen grinste. Das zweite, war ein Familienfoto, auf dem alle Anwesende zu sehen waren.