46 - Blickwinkel

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Mit einem ganz anderen Blickwinkel fängst du an die Sachen zu betrachten, wenn du die Geschichte hinter sie erfährst.





























Den letzten Track nahmen die Jungs auf, bevor sie Feierabend machten. Ihr langersehnter Album war am entstehen.
Für den emotionalen Liebestrack schliffen sie bis ans letzte Detail. Eine Hintergrundgeschichte hatte sie, die Birkan mit seiner gefühlvoller Tonlage zur Geltung brachte.
„Ihr habt gut genug geschuftet. Morgen kann es weitergehen.", zog der Produzent den Schlussstrich.

Als Maxim sah, dass Ensar Richtung Bahnhaltestelle ging, bat er ihn einzusteigen.
„Hat der Track eine Geschichte?", fragte Maxim, während er durch die Straßen kurvte. Sanft regnete es dabei. Die Regentropfen rieselten auf den glänzenden Asphalt.

„Klar. Bei uns kommt alles aus'm Herzen.", huschte ein Lächeln über Ensars Gesicht.
„Ihr seid 19, 20 Jahre alt. Was habt ihr erlebt, dass ihr solche Texte schreiben könnt? Rapper besorgen sich Ghostwriter dafür."
Ins Nachdenken geriet Ensar.

„Schwierige Kindheit, Verlust von Familienangehörigen, abbekommen Körbe, gescheiterte Liebesversuche..."
Verwundert warf Maxim einen Blick auf den Beifahrer.


Vor der Haustür wurde der junge Atay abgelassen.
Einen Blick auf den zweiten Stock warf er, um zu schauen, ob seine Eltern schon schliefen. Schwach brannte ein Licht im Flur.
Obwohl sein Zimmer in Asels Apartment kleiner war, fühlte er sich dort viel wohler. An ihre Wohnung hatte er sich gewöhnt.

Müde schlenderte Ensar in sein Zimmer. Die Stimme seiner Eltern ertönten aus dem Wohnzimmer.
Vor Türen zu lauschen war nichts für Ensar, doch als es um seine Schwester ging, wurde er hellhörig.

„Unsere Tochter ist groß geworden, Filiz. Eine wunderhübsche junge Frau ist Asel geworden... Ich habe Zweifel."
„Das brauchst du nicht, Ilyas. Wir waren auch mal jung."
„Ich will das beste für meine Töchter. Irgendwann werden sie heiraten. Guten Menschen möchte ich sie anvertrauen."

Ensar dachte an die ein und einzige Person:
Cihangir.
Seine Schwester und er, waren auf dem guten Weg sich zu verlieben. Auf erster Linie nahm er eine Kugel für sie auf.
Der mysteriöse Kontakt auf Cihans Handy mit dem Mond müsste Asel sein. Die Kette an Asels Armgelenk mit einem funkelnden Neumond müsste auch von ihm sein.
Das Armband müsste er ihr geschenkt haben.

„Eigentlich habe ich jemanden im Kopf. Jemand, der aus einer guten Familie kommt, gebildet und höflich ist. Der eine saubere Vergangenheit hat.", fuhr Ilyas fort. „Lassen wir die Wahl unseren Töchtern. Zeiten haben sich verändert.", meinte Filiz.
Genau, Mama, stimmte Ensar gedanklich zu.
„Während Cihangir um Asel herum kreist, werde ich nicht ruhig schlafen können.", raunte Ilyas. Keine Sorge, Cihan wird gut auf Asel aufpassen, baba.

„Ich bin einfach müde vom Denken... Seyit baba (Vater Seyit) hat heute nach langem angerufen.", teilte Ilyas die Neuigkeit mit. Erstaunt wartete Ensar auf den weiteren Verlauf des Gesprächs.
Da er in der Türkei wohnte, hatte er keine sonderlich enge Verbindung zu den Atays.
„Er hat sicherlich Wind von dem Vorfall bekommen.", behauptete Ilyas.

Nachdenklich schlich sich Ensar in sein Zimmer. Opa Seyit hatte nie gewollt, dass seine Tochter nach Deutschland auswanderte. Irgendwo konnte Ensar seine Haltung auch nachvollziehen.
Die Liebe seiner Mutter war die reinste, die ihm begegnet war. Sie wuchs so stark mit ihrem Vater zusammen, dass sie alles besiegten.

Die Liebe kennt keine Grenzen. Die einzigen Grenzen, die uns aufhalten, sind die in unserem Kopf.

Während Ensar den Tag durch den Kopf gehen ließ, trat sein Vater in den Raum. Das Licht im Flur spähte in den dunklen Raum hinein.
„Schläfst du schon?", wisperte Ilyas.
„Nein, du kannst kommen.", richtete Ensar den Kopf in die Höhe.
Auf die Bettkante setzte sich der Vater.

Gefangen in dirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt