Stories [32]

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"Soo-ri schläft jetzt. Ist es zu fassen, dass ich ihn erst seit zwei Tage richtig kenne und bei dem Gedanken ihn morgen wieder abzugeben, weinen möchte?", lachte Felix und trank von seiner Sprite. Sie saßen gemeinsam auf dem Balkon, den der Australier erst vor zwei Stunden entdeckt hatte. Seine Überredungskünste waren nicht die besten, aber Changbin hatte sich erbarmt, und somit hatten sie zusammen gekocht und dann draußen an der frischen Luft gegessen. Dass Changbin sein Essen so lobte, machte ihn immer noch verlegen.
"Damit bist du nicht allein. Die kleine Brut hatte sich auch in mein Herz geschlichen", gab der Schwarzhaarige zu, was Felix Herz erwärmte. Jetzt gerade, hier oben, als der September begann, wollte der Blonde sich Changbin öffnen.
Felix liebte Geschichten.
Also erzählte er Changbin die Seine.
"Vor langer, langer Zeit waren die Dinge einmal ziemlich aus dem Ruder gelaufen..."

Olivia Lee hasste die Hitze, wie Katzen das Wasser. Was in Anbetracht ihres Wohnsitzes in Australien eine schlechte Voraussetzung war. Sie liebte aber ihr Zimmer, denn das war ihr Heiligtum. Ihre klimatisierte Burg, wo sie vor der Wärme, vor ihrem nervigen älteren Bruder, den sie trotzdem abgrundtief vergötterte, und vor ihrer älteren Schwester geschützt war. Die Einzige, welche stets und ständig hinein und wieder hinausflog, war ihre Moma. Ihr Engel in stählender Rüstung und Flügeln so weiß wie Schnee.
"Liv!! Wir wollen los!"
Die Neunjährige seufzte und stand von ihrer Fensterbank auf. Sie würden jetzt lieber mit ihren Pumpen spielen als Schwimmen zu gehen. Die Fahrt zum Strand verlief wie immer laut und unterhaltsam. Familie Lee wusste, wie man es machte, damit keinem langweilig wurde. Rachel, ihre ältere Schwester, die gerade fünfzehn geworden war, hörte Musik auf ihrem Handy, während ihr älterer Bruder Felix, der vor einer Woche seinen zwölften Geburtstag gefeiert hatte, sich mit seiner Mutter über sein Taekwondo Training unterhielt. Oft spielten sie Autokennzeichen raten, wo Olivia immer die Beste war. Manchmal spielten sie auch gar nichts und hörten still der Musik zu, wobei ihr Vater immer schief und komisch mit sang. Auf jeden Fall hatten sie immer Spaß. Eine halbe Stunde später waren sie am Strand angekommen. Felix hatte sich längst ins Wasser verzogen, wohingegen der Rest in der Zwischenzeit den Schirm aufstellte und die Decken ausbreitete. Dann war es Zeit den unüberhörbaren Geräuschen des Strandes zu lauschen. Den Wellen, die gegen den Sand krachten, die Kinder, die aus voller Kehle schrieen und den Booten, die durch das Meer rauschten. Olivia entschied sich auch ins Wasser zu gehen.
"Pass auf die Strömung auf, Liebes", rief ihre Moma dem Mädchen hinterher. Sie nickte und rannte weiter. Die Kühle der Wellen peitschte auf sie hinein und sie schüttelte sich. Einige Sekunden nach der Gewöhnungsphase watschelte sie in das tiefere Gewässer. Sie konnte schwimmen und das sogar ganz gut. Ihr würde nichts passieren.

Tiefe, raue Schluchzer entrangen sich aus ihrer Kehle, während sie versuchte gegen die Strömung anzukämpfen. In ihrem Kopf entstand ein gewaltiger Druck, als sie wieder unter die Wasseroberfläche geschoben wurde. Ein Schwindelgefühl und ein undefinierbarer Schmerz entfachten sich in ihrer Brust. Ihre Lungen brannten. Sie hielt die Augen geschlossen, starrten ins Schwarze, aber Olivia versuchte zu überleben. Sie strampelte mit den Beinen, um wieder an die Luft zu kommen. Das Brennen wurde schlimmer, die Panik setzte ein. Ihr Inneres sagte, sie solle dagegen ankämpfen, doch die Müdigkeit wollte sie übermannen. Sie säuselte: Komm, komm zu mir! Hier ist es schön.
Sie spürte es. Schwarze Bereiche tanzten rings um ihr Bewusstsein. Funken. Sie wusste, sobald sie sich fallen ließ, war es vorbei. Olivia würde zu Schwärze werden und niemand konnte ihr helfen. Statt Funken hat es plötzlich einen Blitz gegeben, der sich strahlend vor ihren Augen aufbäumte.
Hilfe!
Sie dachte an Tage zurück, wo sie mit ihrer Moma gebacken hatte, weil sie es so liebte. An Tage, wo ihr älterer Bruder Felix mit ihr verstecken spielte. Oder an die Zeit, in der Rachel ihr immer die Haare geflochten hatte und ihr Vater sie in den Himmel warf, damit sie merkte, wie es war zu fliegen.
Und dann kam das letzte dunkle Aufblitzen und Olivia Lee schwamm leblos mit der Strömung.
Felix Vestand war völlig leer, während man Olivia aus dem Wasser zog. Sie war so blass und kalt und....
Er wusste es, doch er wollte es nicht aussprechen. Nicht denken, nicht wissen, nicht wahrhaben. Seine Moma schrie und schrie und schrie. Schüttelte die kleine braunhaarige Schönheit, die sie war. Tränen brannten in seinen Augen. Es war ein Druck, den er hasste.
"Olivia! Olivia! Baby! Öffne die Augen. Bitte!"
Rachel zog ihn weg. Ihr Vater trat an sie heran. Seine Augen tränten. Felix hatte ihn bisher nie weinen sehen. Er war ein Fels. Unerschrocken. Unerschütterlich. Stark. Diese ganze Situation kam ihm so unwirklich vor. Doch eins wusste er: An diesem heutigen Tag, voller Sonne und Licht und Wasser, war etwas in ihnen allen gestorben. Und seine Mutter hatte nie wieder so gelächelt wie früher.

Coffee Love {ChangLix}Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt