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Ich saß zusammengekauert in der Ecke des großen Ecksofas, hatte eine Wolldecke über meinen angewinkelten Beinen liegen und hielt ein Glas Wein in der Hand. Das Getränk war furchtbar, aber es brannte in meiner Kehle und betäubte meinen Verstand. Es half, damit ich mich nicht gänzlich in meiner Negativität verlor und einmal mehr in Tränen ausbrach. Mein drittes Glas Alkohol. Durch Miriam hatte ich sowas nie getrunken. Sie trank immerhin für mehrere Personen gleichzeitig.

Valentin hatte mich Wein probieren lassen. Mehr Alkohol besaß er nicht und war deshalb zu der einzigen Lösung geworden, die mir eingefallen war.

Wie hatte Miriam das nur machen können? Wie konnte sie ihr Handeln mit ihrem Gewissen verbinden? Wie konnte sie die Männer verleugnen, die sie mit nach Hause brachte? Wie konnte sie Alexander oder mir ohne Schuldgefühle ins Gesicht schlagen? Wer war diese Frau eigentlich?

Die Fragen schwirrten seit dem Nachmittag in meinem Kopf. Seit wir die Schule verlassen hatten und es vor der Schule eskaliert war. Niemals würde ich die Tränen meines Bruders vergessen. Nie die bösen Sätze meiner Mutter. Endlich hatte sie das ausgesprochen, was sie seit sechs Jahren in sich getragen hatte. Sie hatte mir endlich die Schuld gegeben, mir gesagt, dass ich für den Tod meines Vaters verantwortlich war. Dass ich für die fehlende Bindung zwischen Mutter und Sohn schuld war. Dass ich für die kaputte Beziehung zwischen Miriam und Valentin schuld war. Alles meinetwegen.

Ich setzte das Glas an meine Lippen, trank zwei kleine Schlucke und verzog anschließend das Gesicht. Der bittere Geschmack löste ein unkontrolliertes Schütteln bei mir aus. Ich mochte keinen Alkohol, fand den Wein nicht lecker, dennoch wollte ich jetzt nicht darauf verzichten.

„Alexander ist eingeschlafen", verkündete Valentin, sobald er das Wohnzimmer betrat. Die Tür lehnte er an und setzte sich zu mir auf das weiche Sofa. Ich spürte seine Augen besorgt auf mir ruhen. Für ihn war das eine Situation, wie er sie noch nie erlebt hatte und erleben wollte. Ihm war sicherlich bewusst, wie die Zukunft für Alexander und mich aussah, dass wir auseinandergerissen werden würden. Es gab kein wir mehr, weil mein Bruder woanders untergebracht werden würde.

„Ich hab großes Interesse, ihr Leben zu zerstören", krächzte unter Schmerzen. Mein Hals war geschwollen, was ich meinem Zusammenbruch vor der Schule zu verdanken hatte. Fieber war dazu gekommen, mein Kopf schmerzte, die Nase war verstopft und unter meiner Brust konnte man es rasseln hören, wenn ich mit dem Mund tief einatmete.

Valentin rutschte näher und nahm mir das Glas aus der Hand, das er auf dem Glastisch abstellte. Danach legte er ein Bein hinter mich, kam noch viel näher und platzierte mich zwischen seinen Beinen. Ich ließ die Nähe zu. Seit dem katastrophalen Wochenende am Meer hatten wir keinen Abend zu zweit verbracht, hatten nicht offen miteinander gesprochen und so viel Zuneigung hatte ich nicht zugelassen. Nicht, nachdem ich in seinen Armen wach geworden war.

„Du zitterst", murmelte er in mein Haar, in das er seine Nase vergraben hatte. „Lass mich unter deine Decke und dich wärmen, Tiana."

„Ich will ihr wehtun." Die Wolldecke zog ich unter meinen Beinen hervor. Auf meine Worte ging Valentin nicht ein, nahm mir die Decke weg und legte sie über uns beide. Er deckte mich bis zum Hals zu, blieb mit seinen Armen unter dem warmen Stoff und legte sie um meinen Körper. Mit der Schulter lehnte ich an seiner Brust, ließ den Kopf an seine Schulter sinken. Ich war müde, völlig erschöpft. Miriam hatte mich viel zu viel Kraft gekostet und mich gnadenlos zerbrochen.

„Hör auf zu reden und ruh dich aus", sprach er leise und voller Sanftheit in seiner tiefen Stimme. „Ich werde euch nicht den Rücken kehren. Vertrau mir bitte." Ich wusste nicht, in welche Richtung er von Vertrauen sprach. Seine Hand, dessen Arm um meinem Bauch lag, hatte ein Schlupfloch gefunden und er streichelte zärtlich die überhitzte Haut meiner Hüfte. Ob er das meinte? Sollte ich ihm vertrauen, dass er nicht weiterging? Oder redete er von Miriam und der Gesamtsituation, dass er uns nicht im Stich lassen und uns helfen würde?

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