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Ich schlug müde die Augen auf, sah meinen Bruder, wie er etwas auf den Nachtschrank abstellte und zur Seite ging. Danach trat Valentin ins Bild, stellte ebenfalls etwas ab. Meine Augen fühlten sich verklebt an, als hätte ich viel geweint und die Tränen wären an den Wimpern getrocknet. Ein unangenehmes Gefühl.

Nur kurz rieb ich mir die Augen und richtete mich in Alexanders Bett auf. Normalerweise war er es, der zu mir ins Bett kam, doch letzte Nacht hatte ich mich zu ihm geschlichen. Ich hatte seine Nähe gebraucht. Der gestrige Tag nagte noch immer an mir. In den letzten Stunden war die Traurigkeit nicht weniger geworden, als würde sie sich an mir festklammern und nicht gehen wollen. Das hatte mich am Abend fertig gemacht. So oft war ich in Tränen ausgebrochen, während Alexander und Valentin geschlafen hatten. Die halbe Nacht hatte ich in meinem Zimmer auf der Bank gesessen und nach draußen gestarrt, bis ich es nicht mehr ausgehalten hatte. Das Alleinsein hatte mich verrückt gemacht, also war ich zu meinem Bruder ins Zimmer gegangen und hatte mich neben ihn gelegt.

„Guten Morgen, Tiana", sagte Valentin mit sanfter Tonlage.

Ich brummte, fuhr mir durch die Haare, die sehr verknotet waren. Vielleicht schnitt ich sie mir ab.

„Du hast die Brezel vergessen!", rief mein Bruder entrüstet und eilte aus dem Zimmer. Ein Blick auf den Nachtschrank zeigte mir, dass man mir Frühstück zubereitet hatte. Bei der unordentlichen Verteilung des Streichaufschnitts konnte ich mir sicher sein, dass Alexander das Messer geführt hatte.

Valentin setzte sich auf die Bettkante und schaute mir sorgenvoll in die Augen. „Du siehst aus, als hättest du letzte Nacht nicht geschlafen. Geht es dir gut?"

„Ja." Ich zog die Decke über meine Brust. „Wieso bist du nicht bei der Arbeit?"

„Ich habe mir freigenommen. Wir könnten wegfahren und ihr verbringt das Wochenende außerhalb der Stadt. Meine Eltern haben ein kleines Strandhaus, das wir nutzen können", erzählte er, während er mein Gesicht betrachtete. Seine dunklen Augen sahen jeden Zentimeter genau an.

„Wegfahren?", wiederholte ich irritiert. „Alex und ich können nicht einfach wegfahren."

„Natürlich könnt ihr. Was habt ihr am Wochenende vor, dass ihr nicht ein paar Sachen packen und zwei Tage am Strand genießen könnt? Wart ihr schon mal am Strand?"

Alexander kehrte eilig zurück und legte eine Brezel auf einen Teller, worauf zwei belegte Brötchenhälften lagen. Er wusste doch, dass ich niemals so viel aß. Das bekam ich nicht alles herunter. Dazu gab es Orangensaft, Kaffee und etwas Obst.

„Ich war mit neun das letzte Mal am Strand. Miriam war zu dem Zeitpunkt mit Alex schwanger." Ich nahm mir eine Weintraube und schob sie mir in den Mund. Das Angebot war verlockend. Weit weg von dieser Stadt zu sein, sich nicht mit Miriam beschäftigen zu müssen und den Ärger für ein paar Tage vergessen zu können, klang in meinen Ohren wahrlich gut. Nach dem gestrigen Tag, der in einem Desaster geendet war, tat es meinem Bruder und mir womöglich gut, die Stadt zu verlassen.

Aber konnten wir das wirklich machen? Wir hatten uns bei Valentin eingenistet, weil es für uns keinen anderen Ausweg gegeben hatte. Valentin hatte uns zwei wunderschöne Zimmer gegeben, die wir nach Herzenslust gestalten konnten, als hätte er auf den Einzug bloß gewartet. Ich glaubte nicht, dass er auf diesen Tag hingearbeitet hatte, aber ich konnte mir sicher sein, dass ihn unsere Anwesenheit freute. Dass ich hier war, wir uns täglich sahen und viel mehr gemeinsam machten, gab ihm ein Glücksgefühl. Wir lernten einander kennen, was ich vorher nicht zugelassen hatte.

Aber mit Valentin Urlaub machen? Was war das für ein enormer Wandel? Vor ein paar Tagen hatte ich ihn noch provoziert, ihm eine Beleidigung an den Kopf geworfen und ihn bewusst verletzt. Jetzt sollte ich mich in sein Auto setzen, zwei Nächte in einem Strandhaus verbringen und mich an seiner Seite entspannen.

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