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Alexander kletterte aus dem Auto seines Cousins, während ich an der Wagentür stehen blieb und auf ihn wartete. Yannick selbst stand entspannt am Grundstück seiner Eltern, wartete geduldig auf uns. Ihm war bewusst, wie groß die Verunsicherung bei uns war. Besonders bei meinem Bruder, der nicht wusste, wie er die neue Situation greifen sollte. Alles war neu. Seinen Cousin kannte er nicht mehr, dessen Familie war für ihn fremd geworden. Für Alexander begann ein neuer Lebensabschnitt, den ich ihm unbedingt leicht gestalten musste, damit er die Familie in sein Herz schloss.

Alexander und unsere Verwandten mussten zueinanderfinden, damit Alexander künftig hier leben konnte. Das Ziel musste unbedingt umgesetzt werden.

„Bist du bereit, Großer?"

„Nein", gab er ehrlich zu und griff nach meiner Hand. Ihm war die Angst anzusehen, gleichzeitig auch die Neugierde. Er wusste, es hatte die Familie all die Jahre gegeben und wir hatten lediglich keinen Kontakt zu ihnen, weil Miriam sich von ihnen losgesagt hatte. Jetzt würde er seine Cousins, seine Cousine, Tante und Onkel neu kennenlernen.

Yannick drückte eine Taste auf seinem Autoschlüssel, sodass sich die Türen verriegelten und wir ihn zu seinem Elternhaus begleiten konnten. Unser Besuch war angekündigt. Er hatte zuvor angerufen, um sicher sein zu können, dass jemand hier war. Dass Miriam versucht hatte, meinen Bruder aus seiner Schule zu verschleppen, hatte Yannick nicht erwähnt. Das war meine Aufgabe.

Bevor Yannick die Haustür aufschloss, öffnete sie sich bereits und Tante Natascha erschien auf der Türschwelle. Sie trug ein Lächeln im Gesicht, schaute abwechselnd Alexander und mich an. Für einen winzigen Moment verrutschte ihr Lächeln, denn unser Anblick konnte ausschließlich Sorge in einem hervorrufen. Uns ging es nicht gut. Wir waren psychisch völlig zerschmettert worden.

„Hallo, Tiana", grüßte sie mich zuerst und umarmte mich, was sie beim letzten Mal nicht machen konnte. Ich erwiderte die Umarmung mit einem Arm, ließ die Hand meines Bruders nicht los. Danach wendete sie sich Alexander zu und ging vor ihm in die Hocke. Sie zeigte ein liebevolles Lächeln, streckte ihre Hand dem kleinen Jungen entgegen, der mit seinen acht Jahren Schutz hinter mir suchte und nur an mir vorbei lugte.

„Hallo, Alexander. Ich freue mich sehr, dich nach so langer Zeit wiederzusehen", sagte sie in einem mütterlichen Tonfall, der mir einen Kloß in die Kehle trieb. Miriam hatte seit Jahren nicht mehr so mit uns gesprochen. Wir kannten nicht mehr, wie es sich anfühlte, von einer Mutter geliebt zu werden. Man hatte uns sechs Jahre nicht wertgeschätzt, nicht in die Arme genommen und gesagt, dass man stolz auf uns war. Dass wir tolle Kinder waren.

Meine Tante trat auf, wie ich es mir die ganze Zeit von Miriam gewünscht hatte.

„Magst du mir deine Hand geben, damit wir uns begrüßen können? Du musst Tiana nicht loslassen", fuhr sie sanft fort. Schon jetzt war ich mir sicher, dass es meinem Bruder hier gutgehen würde. Er würde einen sicheren Ort haben, an dem er keine Angst mehr vor Miriam haben musste. Hier konnte er sich entwickeln und das Kind sein, das er mit seinen acht Jahren sein sollte.

Alexander wagte sich ein Stück vor und streckte unserer Tante die Hand entgegen. Ihr Lächeln wuchs gleich noch mehr.

„Ich bin deine Tante Natascha", sagte sie. „Tiana hat in deinem Alter immer Tante Tascha zu mir gesagt. Als sie noch jünger war, war ich sogar Tante Tasche. Es hat gedauert, bis sie mich endlich Tante Natascha genannt hat."

„Aber das ist doch nicht schwer", meinte Alexander leise. „Tante Natascha."

Sie lachte kurz. „Du kannst stolz auf dich sein, Alexander. Du sprichst den Namen perfekt aus." Dann richtete sie sich auf und bat uns in das Haus. Ich zog meine Schuhe und Jacke aus, was mir mein Bruder gleich tat. Er wich mir nicht von der Seite, während ich durch den Flur ging und das Wohnzimmer betrat, in dem ich meinen Onkel vermutete.

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