18

664 48 4
                                    


Ich sah meinen Cousin verunsichert an, überlegte, wie ich ihn begrüßen sollte. Er hatte mich zwar bei unserem Wiedersehen in seine Arme geschlossen, doch das war nicht zur Begrüßung gedacht. Das war eine andere Situation gewesen. Jetzt ging es tatsächlich um eine Begrüßung, um ein Hallo oder Hey.

Yannick verdrehte bei meiner Verunsicherung die Augen und trat an mich heran, um seine Arme um meinen Körper zu legen. „Meine Güte, was bist du noch immer schüchtern und ängstlich", sagte er neckisch, bevor er mich wieder losließ und mich einmal mehr musterte. Im Gegensatz zu mir, der das Elend deutlich anzusehen war, wirkte er weder erschöpft, noch irgendwie psychisch belastet. Er stand selbstbewusst vor mir, strahlte diese Selbstsicherheit aus. Vermutlich konnte er damit sogar Valentin das Wasser reichen, der selbst sehr selbstbewusst durch die Welt marschierte.

„Komm rein", sagte ich schnell, um mir nicht von ihm anhören zu müssen, wie schlecht ich ausschaute. Das musste er mir nicht extra sagen. „Erwarte nicht zu viel. Alex und ich haben einen Scheißtag hinter uns. Ihn hat es heute schlimmer erwischt als mich."

„Was ist denn passiert?"

„Miriam ist passiert und das Jugendamt war Zuhause." Ich sah ihm bei den Worten nicht in das Gesicht, schloss die Haustür und bat ihn, seine Schuhe auszuziehen.

„Das Jugendamt war schon da?"

„Ja. Als würden die sich Zeit lassen, nachdem Videos im Netz rumkursieren, wie Miriam Alex und mich schlägt."

„Und was hat Miriam gemacht?", fragte er, während er mir in das Wohnzimmer folgte.

„Zwang auf Alex ausgeübt", meinte ich schlicht und betrat den Raum. Mein Bruder sprang sofort von dem Sofa auf und lief zu mir, suchte bei mir Schutz vor dem fremden Mann. Er klammerte sich an mir fest, lugte nur vorsichtig an mir vorbei zu dem stattlichen Mann, zu dem Yannick geworden war. In ihm war die Angst grenzenlos geworden, seit das Wort Jugendamt von Miriam gefallen war. Alexander wusste, dass ihm nur noch wenige Tage blieben, bis man ihn in Obhut nehmen würde.

Ich ging in die Hocke, lächelte ihn an. „Hab keine Angst, Großer. Das ist Yannick, dein ältester Cousin. Auf ihn kannst du dich immer verlassen und ihm alles anvertrauen", sprach ich sanft. „Yannick, das ist mein Bruder, Alex."

Mein Cousin ging ebenfalls in die Hocke, wodurch er mit seiner Größe nicht mehr über Alexander ragte und weniger einschüchternd wirkte. Ein Lächeln zeichnete sich von seinen Lippen ab, obwohl ihm zeitgleich der Schock anzusehen war. Ich glaubte nicht, dass er mit der Erwartung hergekommen war, einen ängstlichen Grundschüler zu treffen, der nicht von meiner Seite weichen wollte. Das Ausmaß sollte selbst ihm bewusst werden, ohne dass man ihm noch mehr zu den letzten Jahren erzählen musste.

„Hallo, Alex. Es ist schön, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Das letzte Mal warst du noch ein Knirps und hast alle verrückt gemacht, weil du so schnell gelaufen bist und man dich suchen musste, wenn man eine Sekunde nicht hingesehen hat. Du hast uns alle ganz schön auf Trab gehalten."

„Ja?", fragte Alexander. Neugierde war in ihm erwacht. Auf diese Weise hatte Yannick oft mit mir gesprochen. Es war eine Tonlage, die Vertrauen in einem weckte und Angst nahm. Yannick konnte so gut mit Kindern umgehen, das hatte er schon als Kind im Blut gehabt.

„Man sieht es dir nicht an, aber du arbeitest im Kindergarten, oder?", fragte ich.

„Es hat mich dorthin gezogen, ja." Yannick richtete sich mit mir auf und schaute sich in dem großen Raum um. „Ein hübsches Haus", merkte er anerkennend an.

„Danke", hob Valentin seine Stimme, der nun ebenfalls in das Wohnzimmer kam. „Ich bin Valentin. Mir gehört das Haus." Er streckte seine Hand nach meinem Cousin aus.

Warum leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt