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„Wie sind die Flyer angekommen?", fragte Valentin tags darauf nach. Hinter mir hörte ich, wie er seine Aktentasche abstellte, während ich vor dem Ofen stand und den Kartoffeln zusah, wie sie in dem Topf vor sich hin kochten.

„Gut", antwortete ich abwesend. Zwei Tage noch, bis es auf den Tag genau sechs Jahre waren. Das allein zerriss mich innerlich, trotz der Mühe, die sich mein Bruder gab. Er versuchte es mit Scherzen, wollte mich aufheitern und mir ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Manchmal provozierte er bewusst, damit ich mich aufregte und andere Emotionen an den Tag legte, statt in meiner Traurigkeit zu verweilen.

Der Jahrestag tat so weh, aber Miriam machte es nicht besser.

Ich ignorierte das blubbernde Wasser, das über den Rand des Topfes spritzte. Das Essen würde nicht so gut werden, wie Alexander und ich es gewohnt waren. Heute konnte ich mich nicht darauf konzentrieren, nachdem ich Miriam bei einem morgendlichen Einkauf gesehen hatte. Es war nur ein kleiner Auftrag für das Herbstfest gewesen, doch das war schnell in Vergessenheit geraten. Miriam hatte mich nicht gesehen. Sie wusste nicht, dass ich ihr schmutziges Geheimnis herausgefunden hatte.

Wie sie am Arm des Mannes gehangen hatte. Wie sie ihre Brüste an dem Arm gerieben hatte. Wie verführerisch sie in das Gesicht des Mannes geblickt hatte. Es war ein anderer Mann gewesen, als jener in ihrem Bett.

Zu wissen, dass sich die eigene Mutter verkaufte und das auch noch gerne tat, trieb mich in den Wahnsinn. Es verletzte und schockierte mich. Mit so einem Bild hatte ich nicht gerechnet, nachdem ich sie gestern mit diesem Mann in ihrem Bett gesehen hatte. Mir war nicht in den Sinn gekommen, dass sie eine Hure sein könnte.

Ich zuckte zusammen, als ich zwei große Hände an meinen Oberarmen spürte. Dahinter bemerkte ich die Sorge. Valentin würde mir niemals so nahekommen, wenn ich bei Sinnen gewesen wäre. Weil er so aufmerksam war und Alexander und mich auf seine Art und Weise beschützte, spürte er sicherlich, dass es mir nicht gut ging. Ob er wusste, dass ich übermorgen Geburtstag hatte? Wusste er, dass an diesem Tag mein Vater verstorben war?

„Stimmt etwas nicht, Tiana?", fragte er leise nach, während er unter seinen Händen bereits spüren musste, dass ich zusammenbrach. Gestern noch war es mir egal gewesen, dass Miriam hinter Valentins Rücken mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Heute allerdings zerstörte mich das. Meine eigene Mutter war eine Hure. Die einstige liebevolle, sanftmütige und herzensgute Frau verkaufte ihren Körper an so viele Männer.

Tränen brachen an die Oberfläche und rannen über meine Wangen. Sie tropften von meinem Kinn herunter. Das war nicht aufzuhalten. Ich konnte mit dieser Wahrheit nicht umgehen. Wie sollte ich das mit meinem Herzen vereinbaren, wenn ich tief in mir drin an meiner Mutter festhalten wollte, die sie vor sechs Jahren noch gewesen war?

Valentin zögerte nicht, als er mich zu sich umdrehte und seine Arme um meinen dünnen Körper schloss. Er drückte mich an seine Brust, stellte die Herdplatten aus, damit das Essen nicht verbrannte, und richtete all seine Aufmerksamkeit auf mich.

Das hier war anders. Der Junge, mit dem ich ein paar Mal geschlafen hatte, hatte mir keine Geborgenheit gegeben. Bei ihm hatte ich mich nicht fallen lassen können. Er hatte mir keine Befriedigung schaffen können. Aber Valentin gab mir mit einer schlichten Umarmung das Gefühl, mich für einen Moment fallen lassen zu können. Er schenkte mir einen Augenblick, um all die gestauten Gefühle nach außen zu lassen.

Ich ließ genau das zu, drückte mich selbst an seine Brust. Die Knöpfe seines Hemdes waren unter meinem Gesicht zu fühlen, doch das interessierte mich nicht. Das ich mich an ihm festhielt, störte ihn nicht. Valentin blieb still und strich mir tröstend über den Rücken, während die Tränen unaufhörlich über meine Wangen flossen.

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