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Dorian und Kilian standen bereits am Schultor, als Valentin mich vor der Schule absetzte. Nicht ein Wort sprach er zu mir. Seit meinen gestrigen Worten in seinem Wagen hatten wir kein Wort mehr miteinander gesprochen. Ich hatte nicht in seinen Armen geweint, war alleine geblieben. Alexanders Worte hatte Valentin nicht umsetzen können, sich nicht an das Versprechen halten können. Valentin hatte mich alleine gelassen, kaum dass wir in das Haus gegangen waren.

Gestern noch hatte ich die beiden Jungen bei mir haben wollen. Sie hätten mich ablenken und von dem Schmerz befreien sollen, doch gerade jetzt wollte ich keinen von ihnen sehen. Ich wollte mit ihnen nicht über die letzten Stunden sprechen, ihnen von Alexanders bevorstehenden Umzug erzählen. Während das Herbstfest am Wochenende ganz groß veranstaltet werden würde, müsste ich mich von meinem Bruder verabschieden. Am Wochenende würde er aus meinem Leben treten und ein neues beginnen, damit es ihm besser ging. Damit er glücklich werden konnte und weit weg von Miriam war.

Ich musste diesen Weg zulassen.

Der Abschied musste sein.

Und sobald dieser Abschied vorbei war, würde auch ich Valentins Haus verlassen und zurück zu Miriam gehen. Ich würde bei ihr wohnen, ihrem Stöhnen lauschen, den Männern zusehen, wie sie in die Wohnung kamen und gingen. Auf mich wartete eine grausame Zeit, die ich freiwillig hinnahm.

Noch bevor ich es an Dorian und Kilian vorbei schaffte, legte sich eine Hand um meinen Arm und man hielt mich auf, zog mich zurück. Es war Kilian, der mich einmal mehr neben sich zog und nicht zuließ, dass ich mich klammheimlich davonstahl. Obwohl es nieselte, stand die übliche Gruppe am Schultor, rauchte und plauderte angeregt miteinander. Sie waren schon aktiv, während ich in mich gekehrt war und den Mund nicht aufbekam.

„Wo hast du deinen Bruder gelassen?", wandte sich Dorian an mich und betrachtete mich forschend, als würde er etwas an mir finden können.

„Bei unserer Tante." Ich schob meine Hände in meine Jackentaschen, blickte unter mich. In meinem Kopf spukte noch immer der Gedanke um einen Schulabbruch. Weil ich mich jahrelang um meinen Bruder gekümmert hatte, waren meine letzten Zeugnisse immer sehr schlecht ausgefallen. Dieses Jahr würde ich an der Schule nicht schaffen, nicht zu den Prüfungen zugelassen werden, um einen Abschluss zu bekommen. Mein Vater würde ein Abbruch nicht gefallen, doch ich sah keinerlei Sinn weiterhin herzukommen und meine Zeit hier zu verschwenden.

Aber wo sollte ich sonst hin? Wo sollte ich meine Zeit vertreiben?

Kilian und Dorian wechselten einen Blick miteinander. Ich bekam mit, wie sich Kilian zur Seite wendete und es sein Freund gleich tat. Dann legte man mir einen Arm um die Schultern, führte mich von der Schule weg.

„Heute muss jemand von euch unsere Arbeit übernehmen. Ihr schafft das schon", hörte ich Dorian sagen.

„Alter! Ihr schwänzt jetzt aber nicht ernsthaft."

„Ist doch eh alles fast fertig."

„Kommt einfach ohne uns klar", rief Kilian, der neben mir lief. Dorian holte zu uns auf, sodass wir gemeinsam in die nächste Straße einbogen und uns somit endgültig von der Schule entfernten. Ausgerechnet die beiden beliebten Klassensprecher schwänzten mit mir die Schule. Mit mir, die keine große Rolle spielte.

Ich nahm es hin, war insgeheim sogar froh, nicht in der Schule sitzen zu müssen. Es war eine neue Erfahrung, denn bisher hatte ich einzig wegen Alexander in der Schule gefehlt. Nun mit Schülern meiner Schule zu schwänzen, war neu.

Wir liefen ein paar Straßen, ohne dass einer von ihnen mehr erfahren wollte. Sie behielten ihre Fragen für sich, warteten, bis wir einen geeigneten Ort gefunden hatten. Dass in der Zeit Brötchen in einer Bäckerei gekauft wurden, man in einem Supermarkt Getränke besorgte, beachtete ich nicht weiter. Einer von ihnen blieb immer bei mir, während der andere in einem Gebäude verschwand. Sie wechselten sich ab, plauderten mit mir über andere Themen – niemals über Alexander und mich.

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