41

540 46 10
                                    

Alexander war zwei gewesen, als wir unseren Vater verloren hatten. Zu dem Zeitpunkt hatte Miriam noch bei seiner Erziehung mitgeholfen, ihn im Kindergarten angemeldet und die erste Zeit hingebracht und abgeholt. Sie hatte gekocht, ihn zum Lachen gebracht, während sie mich bereits immer mehr gemieden hatte. Nach einem Jahr hatte ich angefangen, die Erziehung zu übernehmen und für meinen Bruder da zu sein. Ich hatte immer öfter in der Küche gestanden, die Wäsche gewaschen, Staub von den Schränken entfernt, aufgeräumt. Der Haushalt war plötzlich zu meiner Aufgabe geworden, während Miriam mir gänzlich aus dem Weg gegangen war und dadurch Alexander ebenfalls gemieden hatte.

Ich hatte früher mitbekommen, wie Alexander als Baby geschrien hatte. Sein Geschrei war laut gewesen, hatte mich oft genervt, obwohl ich ihn seit der Geburt sehr fasziniert beobachtet hatte. Er hatte mir ständig ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, sobald er seine winzige Hand um meinen Finger geschlossen und gegluckst hatte. Es hatte mich glücklich gemacht, sobald er mich angesehen hatte. Als er seine Gesichtszüge benutzt und mich angegrinst hatte, war ich noch wesentlich glücklicher gewesen.

Aber ich hatte mich nie mit einem Baby beschäftigt. Ich wusste nicht, wie man es großziehen musste. Was bedeuteten Schreie? Was brauchte ein Baby?

Wie erstarrt stand ich am Türrahmen zum Wohnzimmer und blickte zu dem Baby, das alleine auf übereinander gestapelten Decken auf dem Boden lag. Es schrie lautstark, doch von Miriam war weit und breit nichts zu sehen. Das Bild war genau das, was ich erwartet hatte. Im Flur lag ein Hemd, was auf Männerbesuch hindeutete. Sie vögelte mit irgendeinem Arschloch, während ihr Baby hilflos auf dem Boden lag, keine Hilfe bekam und nicht einmal Geborgenheit erhielt.

Ich hab's gewusst.

Meine Hände zitterten. In meiner Brust schien mein Herz einen neuen Rekord aufstellen zu wollen. Ich wusste, ich beging eine Straftat, wenn ich Miriam das Baby wegnahm, aber diese Wohnung war nicht für ein Baby geeignet. Miriam hatte nicht einmal ein Bett besorgt. Vermutlich war das, was bei dem Baby lag, alles, was es besaß.

Miriam hatte vor ein paar Wochen noch vor mir gestanden, ihre Hand auf ihren Bauch gelegt und gelächelt. Sie hatte glücklich gewirkt, als würde sie sich auf das Baby freuen. Trotzdem tat sie nichts für meine Schwester.

Ich atmete tief durch und ging schließlich zu den Decken. Das Zittern würde nicht aufhören, so viel Zeit auch verging. Es brachte nichts, wenn ich weiter wartete. Außerdem hatte ich Angst um das Baby. Dieser Mann schien geduldig zu sein und sich aus dem Geschrei nichts zu machen, aber der nächste Mann würde sich womöglich aufregen. Vielleicht passierte dem kleinen Mädchen noch etwas.

Bei den Decken ging ich schließlich auf die Knie und legte meine Hand auf die Brust des Babys. Es war ganz rot im Gesicht. Ihr war anzusehen, dass sie nur ein paar Tage alt war. Ihr Körper war winzig. Sie brauchte so viel Hilfe, Liebe und Geborgenheit, um überleben zu können, was sie hier nicht erhielt.

Auf meine Hand reagierte sie nicht. Ich wusste, ich musste mich beruhigen und durfte meine Ängste sie nicht spüren lassen. Jetzt brauchte sie Sicherheit, damit sie zur Ruhe kam. Meine eigenen Emotionen könnten sie anstecken und es schlimmer werden lassen.

Erneut atmete ich tief durch, bevor ich mich näher an sie wagte und meine Hände unter ihren Körper schob. Den Kopf stützte ich mit einer Hand, hob sie in meine Arme und drückte ihren winzigen Körper an meine Brust. Dann stand ich auf und bewegte mich im Wohnzimmer etwas, wiegte sie sanft.

„Ich werde auf dich aufpassen", wisperte ich. „Jetzt wird alles gut."

Nach ein paar Minuten war es in dem Raum plötzlich leise. Noch immer raste mein Herz, aber ich hatte es geschafft. Das Baby war ruhig und schien meine Nähe zu akzeptieren. Sie lag friedlich in meinen Armen, atmete gleichmäßig.

Warum leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt