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„Sie ist wirklich zierlich. Etwas kleiner als du", hatte ich Valentin an seinem Handy reden hören, während ich im Flur an der Wand gelehnt hatte. Ich hatte mich nicht zu ihm in den Raum gewagt.

Seit drei Tagen verkroch ich mich in seinem Haus, hielt nur mit Dorian und Kilian den Kontakt. Niemand hatte von meinem plötzlichen Auszug bei Miriam erfahren. Meine Verwandten wussten nichts. Mit Alexander hatte ich nicht gesprochen. Vor allem war ich mir nicht sicher, wie ich ihm erklären sollte, dass ich wieder zurück bei Valentin war, obwohl ich vor Weihnachten ganz klar geäußert hatte, dass ich nichts mehr mit Valentin zu tun hatte. Valentin sollte mir aus dem Weg gehen, nie wieder ein Wort mit mir wechseln. Jetzt schlief ich wieder in meinem ehemaligen Zimmer.

Nach Valentins Gespräch hatte es den ganzen Mittag gedauert, dann war plötzlich jemand mit einem Auto vorgefahren. Es war das erste Mal, dass ich jemanden aus Valentins Umfeld kennenlernte, umso neugieriger war ich, als ich aus dem Küchenfenster lugte. Ein Mann und eine Frau stiegen aus. Hinten kletterte ein Junge aus dem Auto und die Frau holte noch ein weiteres Kind heraus, noch ein Junge, der so alt sein musste wie Alexander damals, als er seinen Vater verloren hatte.

Valentin empfing seine Gäste an der Haustür. Die beiden Männer riefen sich etwas zu, ohne dass die Worte klar bei mir ankamen. Ich war mir sicher, ich sollte Kaffee zubereiten. Für Gäste backte man Kekse oder einen Kuchen. Irgendwas musste man ihnen anbieten, aber Valentin hatte mir nichts von Besuch gesagt.

Ich arbeite nicht mehr in der Küche, erinnerte ich mich bitter und verlor mit einem Mal den Druck. Es war nicht meine Aufgabe. Valentin musste sich um seine Gäste kümmern.

Ich blieb beim Küchenfenster und sah die fremde Frau an, die ihrem Sohn, den Schnuller aus dem Mund zog. Sie lächelte ihr Kind sanft an, strich ihm liebevoll über den Kopf. Der Anblick schmerzte gewaltig, dabei sollte es mir egal sein. Ich kannte die Frau nicht.

Aber den Anblick.

Miriam hatte Alexander früher auch auf dem Arm getragen, ihn angestrahlt und ihre Liebe offen gezeigt. Sie war mit ihm genauso sanftmütig umgegangen. Ich kannte das Bild von meiner eigenen Mutter. So war Miriam einst gewesen.

Das tat weh. Es erinnerte mich viel zu sehr an die Tage, die durch meine Entscheidung kaputt gemacht worden waren. Wegen diesem verdammtem Eis, hatte ich meinen Vater verloren. Den ersten Mann, den ich heiraten wollte und über alles liebte. Sein Leben für meines. Er hätte damals nicht so weit gehen dürfen. Hätte er überlebt, würde es meiner Familie vermutlich besser gehen. Miriam hatte mir immerhin mehr als deutlich bewiesen, dass die Familie jetzt nur derart verkorkst war, weil ich überlebt hatte.

Ich atmete tief durch, hörte, wie die einzelnen Leute das Haus betraten und ihre Schuhe auszogen.

„Leon! Du wirst deine Schuhe auch ausziehen!", meinte der Mann mit strengem Tonfall.

„Ich will aber in den Garten!"

„Dann zieh sie im Garten wieder an, aber du wirst nicht mit Schuhen durch das Haus laufen. Du kennst die Regel!"

Der Junge stöhnte.

„Du kannst auch Barfuß draußen spielen", hörte ich Valentin sagen.

Keiner von ihnen hatten nur den Hauch einer Ahnung, wie es mir gerade ging. Sie konnten sich nicht vorstellen, was einzig die Worte in mir auslösten. Im Flur befand sich eine Familie, wie ich sie mal besessen hatte. Mein Vater hatte manchmal auch einen strengen Tonfall angeschlagen. Er und Miriam und hatten uns immer viel Liebe geschenkt, dennoch hatten wir uns an Regeln halten müssen. Ich mehr als mein Bruder, denn der war noch viel zu klein gewesen.

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