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Alexander kletterte zu mir auf das Bett und kroch unter die Bettdecke, um sich an mich zu kuscheln. Im Gegensatz zu mir war er kerngesund, dabei hatte ich erwartet, dass er nach dem Tag am Friedhof krank werden würde. Er hatte mir das Gegenteil bewiesen.

Ich schob meinen Arm unter ihn durch und empfing ihn an meiner Brust, küsste ihn auf den Kopf. Unser Hausarzt hatte uns die restliche Woche krankgeschrieben, kaum dass er uns zu Gesicht bekommen hatte. Nur ein kurzer Blick hatte genügt, schon hatte er laut geäußert, dass wir die nächsten Tage zuhause verbringen sollten. Seine Entscheidung verstand ich, denn ich sah durch meine Krankheit nicht nur krank aus, sondern der gestrige Tag hatte meinen Bruder und mich gekennzeichnet. Wir traten beide mit hängenden Schultern auf, konnten den Kopf kaum oben halten.

Ich wäre beinahe heulend vor dem Doktor zusammengebrochen, wollte ihm sagen, was Miriam mit uns gemacht hatte und ich Hilfe brauchte, um meinen Bruder nicht zu verlieren. Den einzigen Menschen, dem ich Liebe entgegenbrachte und der mich am Leben gehalten hatte. Als ich auf dem Lederstuhl gesessen und dem Arzt versucht hatte, meine Symptome zu erklären, hatten Tränen in meinen Augen gestanden. Sie waren plötzlich gekommen, hatten den Kloß in meiner Kehle beschworen und das Sprechen noch schwerer gemacht.

Der Arzt hatte davon nichts bemerkt.

„Kannst du dich bitte mit Valentin vertragen und ihn liebhaben?", flüsterte Alexander gegen meine Brust. Es war ein Flehen, als könnte eine Bejahung all unsere Probleme lösen. Ich konnte das Jugendamt dadurch nicht von uns halten. Miriam würde dadurch nicht ihr Herz wiederfinden. Eigentlich glaubte ich, dass es mit ihr noch wesentlich schlimmer werden würde, sobald sie erfuhr, dass wir bei Valentin lebten und er in mich verliebt war.

„Wir haben uns vertragen", brachte ich mit Mühe über meine Lippen. Noch immer schmerzte mein Hals. Es kratzte. Bei jedem Schlucken verzog ich schmerzerfüllt das Gesicht. Der rasselnde Husten war einer Bronchitis zu verdanken, die vermutlich noch einige Tage anhalten würde.

„Hast du ihn auch lieb? Valentin liebt dich." Er hob seinen Kopf und sah mich aus seinen unschuldigen hellblauen Augen an. Das Leiden war ihm anzusehen. Miriam hatte diesen kleinen Jungen mit einer Ohrfeige kaputt gemacht. Alexander war gebrochen, geplagt von seiner Angst, wann er von mir getrennt werden würde. Und ich konnte ihm diese Angst nicht nehmen.

„Das ist nicht so einfach."

Valentin war attraktiv, charmant, fürsorglich, liebevoll, zärtlich, ehrlich und loyal. Er war alles, was sich eine Frau unter ihrem Prinzen vorstellte. Man musste so eine Person in sein Herz schließen. Die letzten Monate hatte er mit mir grenzenlose Geduld bewiesen, sich mit mir gestritten und war doch immer wieder auf mich zugekommen. Er hatte nicht aufgegeben, jede Chance genutzt, um mit mir ein paar Wörter wechseln zu können – waren sie noch so boshaft meinerseits. Valentin hatte nett sein wollen, hatte Alexander ein Lächeln geschenkt und sich in das Herz meines Bruders geschlichen. Ich musste zugeben, dass an Valentin nichts falsch war. Er hatte alles richtig gemacht.

Aber er hatte mit Miriam geschlafen.

Mit meiner Mutter.

Und doch war er derjenige, bei dem ich mich so verflucht wohlgefühlt hatte, als ich auf dem Sofa in seinen Armen eingeschlafen war.

Ich drückte Alexander zurück an meine Brust, strich ihm liebevoll über den Rücken. Mit kratziger Stimme ließ ich ihn wissen, dass ich einzig ihn liebte und für niemanden sonst dieses Gefühl empfinden würde. Nur er zählte in meinem Leben.

Der Rest der Welt hatte Respekt und Akzeptanz verdient, doch mehr wollte ich nicht fühlen.

Miriam war vom Rest der Welt ausgegrenzt. Sie war anders. Niemand, den ich respektieren oder akzeptieren konnte.

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