Prolog

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2009

„Papa?" Das junge Mädchen blinzelte verwirrt. Der Arm ihres Vaters lag schwer auf ihrem schmalen Körper. Sie konnte sich unter seinem Gewicht kaum bewegen. Ihr wurde allerdings gleich bewusst, dass jede Bewegung einen enormen Schmerz in ihr auslöste. Tränen schossen in ihre Augen.

„Papa? Es tut weh." Einmal mehr versucht sie, sich zu bewegen und den Arm ihres Vaters von sich zu schieben. Ihr Eis war weg, das sie eben noch in der Hand gehalten hatte. Es hatte wunderbar nach Melone geschmeckt. Beide waren vorhin noch am Lachen gewesen. Was war denn bloß passiert?

„Warum machst du die Augen nicht auf? Papa!" Sie wurde unruhig und ließ vom Arm ihres Vaters ab, stattdessen legte sie ihre Hand auf seine Schulter und schüttelte an ihm. Vorhin hatte sie jemanden schreien gehört. Ihr war die Familie auf der anderen Straßenseite aufgefallen. Mutter, Vater und Kind, das noch im Kinderwagen gelegen hatte. Ihr Bruder wurde auch in einem Kinderwagen geschoben, aber der war kein Baby mehr. Er war schon zwei.

„Papa? Papa!", rief sie unter Tränen, denn ihr Vater reagierte noch immer nicht. Seine Augen waren geschlossen und ein wenig rote Farbe lief aus seiner Nase. Sie glaubte, dass er bestimmt nur ein bisschen Nasenbluten hatte. Das war nicht schlimm. Ihr Vater musste die Augen öffnen und mit ihr reden, ihr die Schmerzen in ihrem Bein nehmen.

Sie hatten doch nur die Straße überquert und ihr Vater hatte sie plötzlich in seine Arme genommen. Er hatte ihren Namen gerufen. Danach hatte sie hier gelegen. Jetzt sagte er ihren Namen nicht mehr und lächelte sie nicht an. Vorhin hatten sie noch gelacht und waren glücklich gewesen, aber jetzt weinte sie. Warum?

In ihrem Herzen kannte sie die Antwort darauf. Mit ihren zwölf Jahren wusste sie, warum ihr Vater nicht mehr reagierte, aber sie wollte es nicht wahrhaben. Sie wollte dem kein Glauben schenken.

„Bitte wach auf!", schrie sie verzweifelt und rüttelte weiter an seiner Schulter. Der Schmerz, der von ihrem Bein hinauf wanderte, ignorierte sie und quälte sich weiter, rückte an ihren Vater heran. Es war nicht der körperliche Schmerz, der ihr zusetzte. Das, was sie in tausend Teile auseinanderlegte, war der Anblick ihres Vaters. An ihr klebte sein Blut. Immer mehr rote Farbe verteilte sich, die nicht nur aus seiner Nase kam. Er blutete irgendwo am Kopf. Das Blut sammelte sich auf der Straße, bildete eine Pfütze.

„Du musst wach werden, Papa! Wir wollen doch zu Mama und Alex und meinen Kuchen essen!" Ihre Stimme wurde mit jedem weiteren Wort zu ihrem Feind. Sie klang anders, als sie es gewohnt war. So fremd, traurig und voller Verzweiflung, aber vor allem ängstlich.

Hinter ihrem Vater sah sie ein paar Leute stehen. Sie kannte niemanden davon, aber sie wusste, das war falsch. Wieso hielten die ihr Handy in der Hand? Warum waren so viele Leute aufgeregt und redeten wild durcheinander? Wieso hörte sie die Feuerwehr? Dann sah sie den Vater von der anderen Familie. Er schrie und weinte, hielt die Mutter in seinem Arm. Er selbst blutete auch. Wo war das Baby, der Kinderwagen?

Sie verstand es nicht. Was war nur passiert, dass alles so laut war?

Ihr weißes Kleid war dreckig. Das würde ihrer Mutter nicht gefallen, dessen war sie sicher. Schon heute Morgen hatte ihre Mutter gesagt, dass sie es nicht anziehen sollte, aber ihr Vater meinte, dass es doch dafür da war, um getragen zu werden. Sie sollte es ruhig anziehen, denn ihr Vater und sie würden bloß ein paar Stunden in der Stadt sein, einen Film im Kino ansehen und dann nach Hause kommen. Aber sie waren nicht sofort nach Hause gekommen. Sie hatte unbedingt noch ein Eis essen wollen und den Wunsch hatte er ihr erfüllt. Und jetzt blutete er.

Plötzlich sprach man sie an und fragte nach ihrem Namen. Der Mann lächelte. Er wirkte nett, aber ihre Eltern hatten ihr immer gesagt, sie durfte nicht mit fremden Menschen reden. Sie durfte auch nicht mit ihnen mitgehen. Also blieb sie stumm und drückte sich mit ihrem schmerzenden Körper an ihren Vater, suchte dort Schutz, doch der Arm ihres Vaters bewegte sich nicht. Er drückte sie nicht schützend an sich.

„Du musst deinen Papa loslassen. Ihr blutet beide und ich muss euch helfen. Ich bin Arzt."

Sie schwieg, sah dem Fremden nur in die Augen. Ein anderer Mann legte seine Finger an den Hals ihres Vaters, sprach kein Wort.

„Darf ich dir helfen kommen?", fragte der Arzt.

„Ich muss bei Papa bleiben."

Der Arzt schaute zu dem anderen Mann, welcher den Kopf schüttelte. Sie wusste aus Filmen, die sie eigentlich nicht gucken durfte, was das bedeutete. Ihre Tränen wurden prompt mehr und sie schluchzte laut. Ihr Vater lebte nicht mehr. Er war tot.

Papa ist tot.

Die Sekunde nutzten beide Männer, um den Arm ihres Vaters von ihr zu nehmen. Sie schrie und wehrte sich, doch die Männer handelten schnell. Man legte irgendwas um ihren Hals und in dem nächsten Moment war sie von ihrem Vater weg. Sie legten sie auf eine Trage und banden sie darauf fest. All das Wehren half nicht, sie entfernte sich immer mehr von ihrem Vater.

„Es tut mir wirklich leid", sagte jemand zu ihr, aber das interessierte sie nicht.

„Papa! Papa!", schrie sie laut, denn trotz der Schmerzen konnte sie ihre Stimme benutzen.

Es war unmöglich, dass ihr Vater an ihrem Geburtstag starb.

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