42

632 43 10
                                    

Sie lag friedlich schlafend in der Ecke des großen Sofas. Die Babydecke bedeckte sie bis zum Bauch, sodass ihre kleinen Ärmchen neben ihr lagen. Eine frische Windel und warme zubereitete Milch hatten sie beruhigt. Dass ich sie nach dem Füttern auf meinem Arm getragen hatte, war für sie Balsam gewesen. Obwohl sie mich nicht kannte, nie zuvor meine Stimme gehört hatte, entspannte sie sich bei mir und fand mühelos in einen ruhigen Schlaf.

Ich selbst hatte schon viel Zeit mit Weinen verbracht, um die gestauten Gefühle nach außen zu lassen und mich wieder beruhigen zu können. Miriams Worte saßen in meiner Seele fest. Dass sie ihre Kinder nicht liebte und nie wieder sehen wollte, tat ungemein weh. Sowas hätte sie vor dem Tod meines Vaters niemals gesagt. Damals hatte sie Alexander und mich geliebt, war stolz auf uns gewesen und hatte gerne ihre Zeit mit uns verbracht.

Ob sie je wieder zu sich finden würde? Konnte sie wieder die Mutter werden, die sie einst gewesen war? Hatte ich Miriam mit meiner Entscheidung, an meinem zwölften Geburtstag ein Eis essen zu gehen, tatsächlich getötet?

Viel mehr fragte ich mich, ob sie vorhin Drogen konsumiert hatte. Der Alkohol war nicht neu gewesen, doch die geweiteten Pupillen, ihre Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit waren wesentlich extremer gewesen. Als besäße sie kein Herz mehr. Als hätten die Drogen dazu geführt, den Rest Mutter auch noch zu töten.

„Hier." Valentin riss mich aus meinen Gedanken und hielt mir eine Tasse mit Kaffee hin. Dankend nahm ich diese entgegen, umfasste das Porzellan mit beiden Händen. Es war nur wenige Minuten her, da hatte ich noch in seinen Armen gestanden und geweint, nachdem ich ihm von Miriam erzählt hatte. Diesen Teil hatten wir hinter uns, doch nun würde der schwerste Part dran sein. Ich musste ihm das Baby erklären, meine Gedanken, mein Handeln, wie ich mir die Zukunft vorstellte.

„Hast du dir schon den Mutterpass angesehen?", fragte er mit gesenkter Stimme, um das neugeborene Baby nicht zu wecken. Er hatte sich um die Milch gekümmert, das Pulver mit warmem Wasser aufgelöst und die Anweisung der Verkäuferin genau befolgt, die ihm alles erklärt hatte. Sogar die Temperatur hatte er an seinem inneren Handgelenk überprüft, bevor er mir die Flasche gegeben hatte. Valentin gab alles, damit es dem kleinen Mädchen gut ging.

„Nein."

„Ich habe ihn mir eben angesehen. Sie ist vor elf Tagen geboren worden. Sie ist achtundvierzig Zentimeter groß und wiegt etwas über dreitausendeinhundert Gramm."

„Sie ist noch so klein."

„Ja." Valentin nickte, saß dicht neben mir auf dem Sofa. „Ihr Name steht auf dem Mutterpass."

„Wie heißt sie?"

„Alena."

„Alena", wiederholte ich leise. „Alena. Das klingt so schön."

„Finde ich auch. Es ist ein sehr schöner Name."

Ich trank zwei Schlucke von dem Kaffee. Valentin hielt zu mir, half mir, aber ich wusste, er war von meinem Handeln enttäuscht. Wir hätten gemeinsam an einer Lösung arbeiten können. Ich hätte mich ihm anvertrauen sollen. Etwas über einen Monat waren wir nun ein Paar, verstanden uns gut und liebten einander aufrichtig, dennoch hatte ich geschwiegen, mein Vorhaben vor ihm verheimlich, statt ehrlich zu ihm zu sein.

„Es tut mir leid", platzte es aus mir heraus. Neue Tränen traten an die Oberfläche. „Es tut mir wirklich leid, Valentin."

„Warum hast du nicht mit mir darüber geredet?" Seine eigene Tasse stellte er auf dem Couchtisch ab und wendete sich mir zu. Er würde jede meiner Reaktionen beobachten. Dieses Gespräch war für die Zukunft wichtig.

„Als ich die Schwangerschaft bei Miriam bemerkt habe, habe ich schon diesen Entschluss gefasst. Ich kann sie doch nicht bei Miriam lassen. Die letzten Jahre haben mir gezeigt, wie wenig Mutter in Miriam steckt und sie sich nicht für ihre Kinder interessiert", begann ich zu erklären. Meine Tasse stellte ich ebenfalls auf den Tisch, um mich anschließend Valentin zuzudrehen und in seine Augen zu schauen. „Ich will sie vor der gleichen Zukunft beschützen, die Alex und ich hatten. Ich kann nicht mal mit Sicherheit sagen, ob Alena bei Miriam überlebt hätte. Als ich vorhin da war und Miriam mit einem Mann im Schlafzimmer war ... In dem Moment kam mir der Gedanke, wann ein Mann die Wohnung betreten würde, der keinen Bock auf das Geschrei hat und dem Baby vielleicht was antut. Ich weiß nicht mal, ob Alena jetzt gesund ist oder Miriam sie während der Schwangerschaft krank gemacht hat."

Warum leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt