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„Alex hat gesagt, dass du noch mehr Superkräfte hast!", empfing mich der kleine Leon überschwänglich. Er sah aus großen Augen zu mir hinauf, während mein Bruder ein paar Schritte hinter ihm stand und sich das Lachen verkniff. Anscheinend hatte er in Leon jemanden gefunden, um von mir schwärmen und allerlei Sachen erzählen zu können. Jetzt konnte er immerhin offen über uns reden, von all meinen Taten erzählen, die ich die letzten Jahre für ihn gemacht hatte.

„Oh ja, sehr viele. Von welchen hat dir Alex erzählt?"

„Du sollst viel besser als Mama kochen!" Leon breitete die Arme aus, um das langgezogene Wort viel zu unterstreichen. „Und du kannst machen, dass man keine Angst mehr hat und mutig ist."

Ich sah, wie Björn am Gartentisch saß, eine Flasche Bier in der Hand, und seinen Sohn genau beobachtete. Er verfolgte jedes einzelne Wort, gleichzeitig musterte er mich. Björn würde eine Beziehung mit Valentin ganz sicher nicht akzeptieren können. Ich war nach wie vor zu jung, zu unreif, zu unerfahren. Mir fehlte noch viel zu viel Lebenserfahrung – in seinen Augen. Weil Björn nicht die ganze Wahrheit kannte, weil man die Geschichte zwischen Valentin und mir, besonders meine Geschichte nicht kannte, urteilte Björn falsch über mich.

Lächelnd ging ich in die Hocke. „Weißt du, mein Papa hat mir das Kochen beigebracht und ich habe mir viel Mühe gegeben, um noch mehr zu lernen. Ich weiß nicht, ob ich besser als deine Mama koche, aber ich bin auf jeden Fall eine gute Köchin. Und Leon, deine Eltern können dir viel besser Ängste nehmen als ich. Sie kennen dich schon sehr lange. Weil ich Alex kenne, kann ich ihm Mut geben. Das haben deine Eltern doch bestimmt auch schon oft."

Leon nickte. „Wenn du mit Mama kochst, macht ihr doch das beste Essen."

„Nein, weil deine Mama und ich unterschiedlich kochen. Wir benutzen beide unterschiedliche Superkräfte in der Küche."

„Aber du bist die Beste, Mama!", schaltete sich Alexander ein, der zu uns gelaufen kam und seine Arme um meinen Hals legte. „Die allerbeste Köchin!" Mein Herz ging bei solchen Worten auf. In solchen Momenten durchflutete Liebe meinen Körper. Jeder Zentimeter wurde mit diesem starken Gefühl gefüllt, sodass ich mich tatsächlich wirklich lebendig fühlte. Mein Bruder war derjenige, der mich brauchte, mich liebte und niemals fallen lassen würde. So hatte er mich am Leben gehalten und mit all seinem Stolz und seiner Liebe hielt er mich weiterhin am Leben.

Das hier war noch wesentlich intensiver, als die vorherigen Momente mit Valentin.

Dieser saß ebenfalls am Gartentisch mit meinem Cousin. Sie tranken alle ein Bier, hatten ihr Gespräch eingestellt, um die Worte der Kinder mitbekommen zu können. Ich wusste, Yannick mochte die angehende Beziehung mit Valentin ebenso wenig wie Björn. Yannick hatte mich dermaßen kritisch angesehen, als ich mich endlich im Garten gezeigt hatte, dass ich mir sicher sein konnte, von ihm keine Unterstützung zu erhalten. Würde er wissen, dass Valentin zuvor mit Miriam zusammen war, könnte das in einer Katastrophe enden.

Andererseits bedeutete es, dass Valentin und ich niemals offen über unser Kennenlernen reden konnten. Wir konnten niemandem erzählen, wie wir einander kennengelernt hatten, wie es zum Verliebtsein gekommen war. Mir war zwar bewusst, dass unsere Geschichte für viele Diskussionen sorgen würde, aber war es richtig, wenn wir alles verschwiegen? Musste ich es überhaupt, nachdem ich ohnehin in furchtbaren Zuständen gelebt hatte? Eine weitere Katastrophe würde meine Geschichte nicht schlimmer machen können.

Ich verdrängte die Gedanken, legte die Arme um den Körper meines Bruders. In den letzten Monaten hatte er etwas zugenommen, im Gegensatz zu mir. Wir hatten uns zuvor schon sehr unterschieden, doch nun war es deutlicher. Mein Körpergewicht hatte eine Zahl erreicht, die immer mehr nach Untergewicht schrie.

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