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Valentin erwiderte überrumpelt die Umarmung meines Bruders und schaute mich aus großen Augen an. Dass ich so schnell wieder vor seiner Tür stand, damit hatte er nicht gerechnet. Ich auch nicht. Es hatte nicht in meinem Sinn gestanden, mich wieder bei ihm blicken zu lassen, nachdem ich ihm einmal mehr den Rücken gekehrt hatte. Der Abstand war so wichtig, damit er von mir abließ. Trotzdem war ich hier, hatte mich von meinem Cousin herfahren lassen.

Und das nur wegen den Schneekugeln und den dazugehörigen Geschichten.

„Hallo, Valentin", grüßte mein Cousin freundlich. „Tiana sagte, dass du auf die Schneekugeln ihres Vaters aufpasst."

„Ja, sie sind oben in ihrem Zimmer."

„Wohnt Ti noch bei dir?", wollte Alexander wissen. Von seinen Augen war abzulesen, wie glücklich er wäre, würde Valentin Ja sagen. Aber ich wohnte nicht hier. Ich wollte diesen Platz nicht mehr. Die Gefühle für Valentin wollte ich nicht mehr. Es musste alles vergehen.

„Sie hat hier ihr Zimmer. Deins wartet auch auf deine Rückkehr, Alexander", antwortete Valentin und schenkte meinem Bruder ein kleines Lächeln. Die Traurigkeit sah mein Bruder nicht. Er hörte nur die hoffnungsvollen Worte und strahlte über das gesamte Gesicht. Ihm entging, wie sehr Valentin litt. Dass dieser Mann meinetwegen gebrochen war.

Es war meine Schuld. Wie immer.

Bei allem war ich die Schuldige.

Mich durchfuhr ein kurzer Schmerz an meinem linken Arm, was mich realisieren ließ, dass ich eine Kruste abgekratzt hatte. An meinem Fingernagel klebte sie. Der Nagel war gerötet. Ich blutete wieder. Die Wunden würden nie verheilen, wenn ich meine kurzen Fingernägel benutzte, um mich weiter zu verletzen und die Wunden jedes Mal zu öffnen.

Ich hätte einen neuen Verband um den Arm wickeln sollen, dann hätte ich mich wegen der Situation nicht gekratzt, hätte die Kruste nicht gefunden und abgerissen.

Das Ritzen konnte ausreichen, dass mich Ärzte zu Spezialisten schickten. Würden diese Leute mein Innerstes und all die Gedanken kennen, würden sie mich nicht mehr auf der Straße laufen lassen. Es war viel zu einfach, sich außerhalb einer Wohnung das Leben zu nehmen. Wenn ich mit dem Zug zu Alexander gefahren war, um ihn zu besuchen, hätte ich mich nur vor den Zug fallen lassen müssen. Ich hätte bloß vor einen LKW gehen müssen, damit mich dieser frontal erwischte. Die meisten Brücken hätten mein Leben beenden können.

Das Ritzen war bloß oberflächig. Es war nicht gefährlich genug, um mein Leben auslöschen zu können. Ich müsste tiefer schneiden, die Schlagader treffen und verbluten. Oder ich schluckte etliche Tabletten und vergiftete mich damit.

Miriam zu provozieren würde vermutlich auch ausreichen. Sie würde mich liebend gerne verschwinden lassen.

„Holst du die Schneekugeln? Ich muss kurz ins Bad", hob ich meine Stimme.

„Bleiben wir dann hier? Valentin kennt die Geschichten bestimmt nicht." Alexander sah mich flehend an, wusste, ich würde ihm keine Bitte ausschlagen. Er war ein hinterhältiges Kind. Das war sein Versuch, mich wieder mit Valentin zu vertragen. Es war sein Wunsch, weil er Valentin mochte.

„Wenn Valentin nichts dagegen hat."

„Natürlich nicht. Sollen wir in den Garten gehen? Du musst dir Tianas Kunstwerk ansehen, das sie mit einem Jungen geschaffen hat." Valentin lächelte noch immer, obwohl es ihm schwerfiel. Es lag schief auf seinen Lippen, ein gequälter Ausdruck verbarg sich hinter dem Lächeln. Er blieb für meinen Bruder stark, zeigte die Traurigkeit nicht, doch die Wahrheit konnte er nicht gänzlich verstecken.

Alexander nickte und betrat das Haus.

„Deine Schuhe, Alex!", rief ich, worauf er sofort reagierte und sie sich auszog, dann eilte er schon die Treppe nach oben.

Warum leben?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt