||Kapitel 89|| Shawn

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Die Ärzte waren nun schon drei Mal zur Visite gekommen, mein Physiotherapeut war auch schon drei Mal da, um Übungen mit mir zu machen. Also mussten drei Tage vergangen sein, oder? Und Annie war kein einziges Mal hier. Hat sie mich nun aufgegeben?

Ich hasse es wirklich. Das kann doch überhaupt gar nicht mehr die Realität sein. Was muss ich tun, um wieder aufzuwachen und nicht mehr in meinem Körper gefangen zu sein? Wenn man es mir sagen würde, ich wäre für alles bereit. Hauptsache diese Qualen hier hören auf.

Es klopfte an der Tür. Dieses Geräusch kannte ich mittlerweile auch in- und auswendig. Ich frage mich wirklich, warum die Leute alle anklopfen bevor sie das Zimmer betraten. Antworten würde ich ihnen schon nicht, dafür war mein Körper ja zu abgefuckt.

Die Tür öffnete sich und ich hörte leise Schritte, die ich definitiv Annie zuordnen würde. Dann hörte ich ein Geräusch, dass sich so anhörte, als wären es Rollen, die über den Boden fuhren. Ich verstand mal wieder nur Bahnhof.

"Hallo!", rief eine Stimme eher leise in den Raum, es hörte sich so an, als wolle sie jemanden nicht wecken. Aber ohne Zweifel konnte ich diese Stimme Annie zuordnen. Ich hatte in den letzten Monaten genug Zeit, ihrer Stimme aufmerksam zu horchen.

Ich will mir gar nicht vorstellen, wie diese Situation gelaufen wäre, wenn sie vor 3 Jahren nicht wieder angefangen hätte, zu reden. Schließlich sind Geräusche gerade alles, was mir von ihr geblieben ist. Na gut, bis auf ihre Berührungen.

Die Schritte kamen näher und damit auch das merkwürdige Geräusch, dass ich eben Rollen zugeordnet hatte.

"Ich bin's. Hast du mich vermisst?"

Dem Geräusch zufolge setzte sie sich gerade auf den Stuhl, der seit Monaten neben meinem Bett stand. Das hatte ich an den Geräuschen erkannt, wenn sie den Stuhl um ein paar Zentimeter verschob, um mir noch näher zu sein.

"Ich war vor drei Tagen fast schon auf dem Weg zu dir, aber was soll ich sagen: Kinder können so einige Pläne zerstören."

Hä? Ich verstehe es immer noch nicht so ganz. Das Puzzle hat sich in meinem Kopf noch nicht zusammen gefügt.

Es hört sich an, als würde sie sich bewegen und dann höre ich plötzlich ein Geräusch, dass ich nicht einordnen kann.

"Hey, behalte den Schnuller drin, Henry!", höre ich meine Freundin leicht lachen.

Moment mal, Henry? So wollte ich doch unserem Sohn nennen. Bedeutet das etwa...?

"Achtung, nicht erschrecken." Annies Stimme war nun ganz nah.

Dann spürte ich plötzlich, wie sie mir etwas auf die Brust legte. Und dieses etwas bewegte sich auch minimal.

"Das ist Henry Jayden Mendes, geboren am 23.06.2024 um 05.47 Uhr, 3579 Gramm schwer und 54 Zentimeter groß. Unser Sohn..." Ich glaube, Annie lächelt gerade.

"Er hat deine Nase und dieselben wunderschönen braunen Augen, wie die, in die ich mich verliebt habe und die ich so gerne wieder sehen würde."

Okay, ich schätze, das wäre nun der Moment, wo ich aufwachen sollte, alles wird gut und wir leben glücklich bis an unser Lebensende.

Ich will meinen Sohn aufwachsen sehen und nicht nur Erzählungen davon hören.

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"Ich weiß echt nicht, was ich tun würde, wenn es deine Schwester nicht gäbe. Ich bin auch irgendwie froh, dass Henry gerade bei deiner Mutter ist. Er schreit die ganze Zeit, ich habe heute Nacht kein Auge zugetan. Aaliyah hat im Kinderzimmer übernachtet, damit ich schlafen hätte sollen, aber Henry hat einfach keine Ruhe gegeben, egal, was wir getan haben. Ich fühle mich wirklich schlecht, ich kann doch nicht von deiner Schwester verlangen, dass sie bei mir wohnt, weil ich alleine nicht mit unserem Sohn klarkomme!" Annie klingt verzweifelt. Ich verstehe auch, warum sie es ist.

Das alles wäre eigentlich mein Job. Ich sollte nachts für Henry aufstehen, für meine Familie da sein und nicht meine Schwester. Das sind meine Aufgaben, aber ich kann sie einfach nicht erledigen.

Es tut mir leid. Was muss ich tun, um aus dem Koma zu erwachen? Ich tue es, egal was. Ich meine es ernst.

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"Wusstest du, dass man ein Kleinkind niemals eine Sekunde aus den Augen lassen kann, wenn man versucht, es mit seinem ersten Brei zu füttern? Und vor allem macht Brei meist so fiese Flecken! Ich glaube, ich muss die Kleidung, die Henry und ich anhatten, entsorgen. Nicht wahr, mein Schatz?" 

Ich kann mir nur vorstellen, wie meine Freundin unseren Sohn gerade liebevoll ansieht und ihm vermutlich die strubbeligen, braunen Haare, von denen sie mir so gerne erzählte, aus dem Gesicht strich.

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"Ich bin so verdammt müde, ich könnte hier gerade auf Knopfdruck einpennen. So wie unser Kleiner jetzt. Du solltest ihn mal sehen, wie er in seinem Maxi Cosi liegt und an seinem Schnuller nuckelt. Es sieht gar nicht so aus, als hätte er die Nacht durchgeschrien. Bin ich froh, wenn er endlich alle Zähne hat!"

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"Henry ist schon richtig schnell im Krabbeln. Wenn man einen Moment wegschaut, muss man ihn gefühlt im ganzen Haus suchen gehen!" Annie seufzt erschöpft.

Ich sollte sie eigentlich entlasten, aber sie muss doch alles alleine meistern. Aaliyah war andauernd bei Geburten, meine Eltern gingen wieder normal arbeiten und nahmen Henry nur an den Wochenenden und ich? Ich lag seit über einem Jahr im Koma. Ich war überhaupt keine Hilfe, eher eine Last für alle.

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Die Tür meines Zimmers schlägt auf.

"Shawn! Henry ist gerade seine ersten Schritte alleine gelaufen, ohne hinzufallen!"

Ich bin stolz auf dich, mein Sohn, und ich wünschte, ich könnte für deine Mama und dich da sein!

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"Gestern hat Henry das erste Mal Mama zu mir gesagt. Ich war in dem Moment so glücklich, aber dann brach ein paar Augenblicke später doch eine Welt für mich zusammen." Annie macht eine Pause, die bei mir sehr viele Fragen aufwirft. Dann meine ich, sie schniefen zu hören.

"Wie jeden Dienstag kam Phil zu Besuch und Henry hat ihn dann mit Papa begrüßt!"

Es brach mir das Herz, zu wissen, dass mein Sohn nicht wusste, wer sein Papa ist. Aber woher auch? Schließlich sah er jeden Tag nur einen Mann, der in einem Bett lag, sich nicht bewegte und nicht mit ihm spielen konnte. Phil war da bestimmt ein viel besserer Ansprechpartner.

Ich hörte Annie weinen und spürte, wie auch bei mir eine Träne unter meinen geschlossenen Augenlidern entwischte. Ich konnte also weinen, aber warum konnte ich meine verdammten Augen nicht einfach öffnen und alles würde gut werden?

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Silence with you - a Shawn Mendes ffWo Geschichten leben. Entdecke jetzt