Kapitel 6 - Dort wo man ist und wo man nicht sein will!

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"Das ist das Speisezimmer, das kennst du ja bereits. Das hier ist das Teezimmer."

"Ein Teezimmer?!"

"Ja, und? Zum Tee trinken."

"Schon klar.", grinste ich.

Ludmilla hatte sich endlich von mir dazu überreden lassen, mir eine Tour des Hauses zu geben. Sie hatte mich durch die verschiedensten Räume geführt. Es gab wirklich für jeden Anlass ein Zimmer. Ich bestaunte die vielen kleinen Details, Skulpturen und Gemälde sowie die vielen kunstvollen Möbelstücke, die eigentlich niemand benutzte. Eigentlich glich das Haus tatsächlich mehr einem verstaubten Museum, weshalb sie meinen Witz natürlich nicht verstanden hatte, als ich sagte: "Was für eine authentische Führung. Fehlen nur noch die Kopfhörer."

Ich hatte es gestern tatsächlich geschafft, Ludmilla innerhalb der knappen fünfzehn Minuten auf das Bänkchen vor dem Piano zu setzen. Sie spielte einige Lieder, wenn auch mit ständigem Wehklagen. Ich musste zugeben, sie spielte gar nicht mal so schlecht. Außerdem fand ich es faszinierend, wenn sie so viel Kontrolle über ihre Hände hatte, dass sie beide unterschiedlich bewegen konnte. Ich hatte mich einmal am Klavierspielen probiert, doch richtige Stunden scheiterten schon daran, dass ich partout die Noten nicht lesen konnte. Und dass ich zu kleine Hände hatte.

Den Rest des Tages hatten wir dann auch irgendwie hinter uns gebracht. Ludmilla verzichtete trotzdem weiterhin darauf, mit mir zu reden. Ich dagegen hatte beschlossen, sie bis zum Abendessen nicht mehr aus den Augen zu lassen.

Die zweite Nacht in meinem neuen Zimmer hatte ich ein wenig besser geschlafen, vor allem, da ich nun ein Ziel hatte, auf das ich hinarbeiten konnte. Ich hatte entschieden, schon in der kommenden Nacht den Weg zum Dorf und dem Stall zu wagen. Denn tagsüber, selbst am Wochenende, würde ich wohl nicht die Möglichkeit haben, unbemerkt das Haus zu verlassen. Also musste ich das im Schatten der Nacht tun.

Heute schien Ludmilla zum Glück besserer Laune zu sein. Es wurde ihr auf Dauer offensichtlich langweilig, nicht zu reden und mich über den Rand eines Buches hinweg böse anzustarren. Also hatte sie mir das Haus und den Garten gezeigt und nun waren wir auf dem Rückweg zu ihren Gemächern.

"Und was gibt es dahinten noch?", fragte ich und zeigte in die entgegengesetzte Richtung.

"Nichts, das von Wichtigkeit wäre. Nur die Räume von Johann."

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Es dauerte einen kurzen Moment, bis Ludmilla bemerkte, dass ich nicht mehr neben ihr ging. Suchend sah sie sich nach mir um.

"Wer ist Johann?", fragte ich, sobald ihre Augen mich gefunden hatten.

"Mein Bruder."

"Du hast einen Bruder?"

"Ja. Wusstest du das nicht? Sein Gemälde hängt unten in der Eingangshalle." Ludmilla drehte sich wieder herum und ging weiter. Aber so leicht würde ich sie nicht davon kommen lassen. Ich holte eilig zu ihr auf.

"Nein. Das wusste ich nicht. Woher auch? Du hast es noch nie erzählt."

"Wie ich sagte, es war nicht von großer Wichtigkeit." Ludmillas Stimme klang wieder distanziert und ich spürte, dass sie gerne das Thema wechseln würde. Aber dafür hatte ich noch zu wenige Antworten auf all meine Fragen. Das konnte sie nicht so einfach abtun. Ein unbekannter Bruder, von dem ich noch nicht gehört und den ich noch nicht gesehen hatte. Natürlich war so eine Information für mich wichtig! Wie mysteriös.

"Wie alt ist denn dein Bruder?" Ich musste heimlich grinsen. Es war unabdingbar, die wichtigsten Fragen zuerst zu stellen.

"Er ist 25 Jahre alt."

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