"Soll ich die Kutsche anhalten?", fragte Anton und sah mich besorgt von der Seite an. "Sie sehen gar nicht gut aus."
Damit hatte er wohl recht. Ich hatte förmlich spüren können, wie mir das Blut aus dem Gesicht gewichen und mir das Herz in die Hose gerutscht war. Ich war nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Mein Kopf schrie nur eine einzige Zahl.
1721!
Das war nicht möglich. Nein, wie auch? Das war völlig absurd. Ich war nicht in der Vergangenheit gelandet. So etwas gab es nicht. Das gab es nur im Film. Und in Büchern. Wäre ich nicht so durcheinander, könnte ich wahrscheinlich eine ganze Liste aufzählen. Und gleichzeitig dazu eine weitere Liste, die erklärte, warum Zeitreisen in die Vergangenheit eine ganz furchtbare Idee waren.
Ich krallte meine Fingernägel durch den Stoff meiner Kleider erneut in meine Oberarme. Das musste ein Traum sein, ein ganz böser Alptraum. Vielleicht war ich gestern nach der Party doch nicht nach Hause gegangen, sondern hatte mich bis zum Umfallen volllaufen lassen und lag jetzt völlig ausgeknockt in einer Ecke der Landjugend. Das wäre mir definitiv lieber, als hier neben einem Fremdem auf dem Kutschbock sitzen zu müssen. Aber vielleicht hatte ich es auch völlig übertrieben und lag mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus. Oder ich war gestolpert, hatte mir den Kopf gestoßen und lag jetzt im Koma. Das musste es sein. Eine komatöse Fantasie.
Innerlich schrie ich meinen Kopf an, er solle mich aufwachen lassen, während Anton die Kutsche anhielt. Erst als er mich vorsichtig am Arm berührte, erwachte ich aus meiner Starre und schien seit einer Ewigkeit wieder Luft zu holen. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich sie überhaupt angehalten hatte.
"Fräulein Isabella...", sagte er vorsichtig. In seinen Augen stand echte Sorge. Doch das war vermutlich auch nicht mehr als eine Projektion meines Unterbewusstseins.
"Okay, Anton. Schluss mit den Späßen. ICH MÖCHTE JETZT AUFWACHEN!", rief ich. Klang ich verrückt? Mit Sicherheit, aber ich musste meinem Kopf klar machen, dass ich seine Spielchen durchschaut hatte. Anton wich verwirrt vor mir zurück. Ich schenkte ihm ein unbesorgtes Lächeln und schloss die Augen. Wenn ich sie jetzt nämlich wieder öffnete, würde ich aufwachen. In der Langjugend, in meinem Bett oder im Krankenhaus. Alles war mir recht.
"Macht man das in Italien so?"
Frustriert öffnete ich die Augen, als Antons Stimme ertönte. Er schnalzte mit der Zunge und die Pferde setzten sich wieder in Bewegung. Warum konnte ich nicht aufwachen? Doch Antons Worte machten mich stutzig.
"Italien? Warum Italien?"
"Da kommst du doch her?", fragte er.
Ich war unsicher, was ich darauf antworten sollte. Sofern ich mich erinnern konnte, kam ich nicht aus Italien. Ich hatte auch keine Wurzeln dort, ich war eine komplett deutsche Kartoffel. Himmel, ich war noch nicht einmal in Italien gewesen, um dort Urlaub zu machen.
"Ja?", antwortete mein Mund trotzdem. Es klang mehr wie eine Frage. Diese Situation überforderte mich, überforderte meine Sinne. Ich konnte nicht aus dem Traum, Koma oder was auch immer aufwachen. Außerdem hatte ich zwar eine sehr lebhafte Fantasie, aber sie wäre niemals dazu in der Lage ein so gestochen scharfes Bild einer Realität des 18. Jahrhunderts zu erschaffen. Mein Geschichtsstudium hatte mir in den ersten drei Semestern vieles gelehrt, aber nichts über dieses Zeitalter. Ich konnte also eigentlich nicht wissen, was ein Chemise oder ein Fichu war. Alles wirkte zu real. Also hielt ich es für die beste Idee, erst einmal mitzuspielen. Den Spielregeln zu folgen und zu tun, was von mir verlangt wurde, was immer das auch sein mochte. Im Grunde hatte ich ja auch gar keine andere Wahl.
"Ja, Italien. Nein, das macht man dort nicht so. Ich bin nur sehr nervös."
"Das ist wohl wahr. Bei einer Anstellung in diesem Hause wäre ich auch nervös."
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My past resolutions
Ficción históricaIsa könnte nicht glücklicher sein, als ihr langjähriger Schwarm sie endlich küsst. Und das an Silvester, genau um 0:00 Uhr. Schon immer hat sie davon geträumt, so in ein neues Jahr zu starten. Doch dieser meint es nicht ernst mit ihr und Isa ist zu...