Kapitel 9.2: Schattenschwinge

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Einen Vorschlag? Sie blickte der Kreatur in die Augen, die wie zwei Fackeln in der Nacht glühten, ehe sie sich zu Schlitzen verengten. Die Gestalt wartete auf eine Reaktion ihrerseits, das wusste Helena. Doch was konnte sie groß darauf erwidern?

Zögernd nickte sie nur.
»Ich habe dich beobachtet. Deine Situation ist - wie nenne ich es am besten? Heikel.«
Was sie nicht sagt, dachte Helena sarkastisch und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ihr Leben war bereits am Ende angelangt, obgleich es noch nicht richtig begonnen hatte. Aber der Gedanke, dass sie von einer solchen Person beobachtet wurde, verursachte ein flaues Gefühl in ihrer Magengegend.

Unerwartet rauschte die Gestalt auf das Mädchen zu und streckte ihr den Kopf entgegen. Ein fauliger Geruch stieg Helena in die Nase. Der Druck an ihrer Schulter wurde härter und dunkler Nebel breitete sich um sie aus.
»Ja, ich kenne deine Lage!", zischte die überirdische Kreatur. Ruhig und beherrscht. Eiskalt. „Ich kenne dein Geheimnis und ich kenne dich. Also würde ich an deiner Stelle nicht so ein loses Mundwerk haben, Alenja. So heißt du doch, oder?«

Kurz weiteten sich ihre Augen vor Schreck. Woher wusste sie so viel? Sie nickte. Einfach schnell dieser Situation entkommen. Der Gestank, den sie versuchte nicht allzu viel Beachtung zu schenken, war kaum auszuhalten. Ihre Nase kräuselte sich. Galle stieg in ihr auf, die sie nur mühsam unterdrücken konnte.

Die rotglühenden Augen blitzten Alenja warnend an. Hatte die Kreatur etwa? Nein, Gedankenlesen war schier unmöglich und grenzte an Hexerei! Aber war es das nicht? Magie? Wie sonst sollte sich Alenja diese Gestalten erklären. Doch das Seltsamste an der ganzen Sache war: Sie empfand nicht einen Hauch von Eigenartigkeit.

»Ihr seid eine Ioskas, eine Dienerin des Teufels«, wagte Alenja laut zu äußern.
„Ich bin weder das eine noch das andere." Mit diesen Worten brachte die Gestalt wieder einen größeren Abstand zwischen die beiden und die Schwaden um Alenja lichteten sich. Das lippenlose Lächeln kehrte zurück. Sanfter fuhr die Kreatur fort: »Ich möchte dir nicht drohen. Ich möchte, dass du mir aus freiem Willen folgst.«
»Folgen? Gerade war es noch ein Vorschlag.« Misstrauen huschte über ihr mit Sommersprossen übersätes Gesicht.

Just in diesem Moment brach ihr Gegenüber in schallendes Gelächter aus, wobei es unnatürlich düster für ein Lachen klang. Eher wie das tiefe Brummen eines Bären. Alenja hielt zwar nicht viel von den Ritualen und Manieren am Hofe, wusste aber, dass derartiges Verhalten als unschicklich angesehen wurde. Verwirrt legte sie den Kopf schief.

Die Schultern der Gestalt wippten, die schwarzen Knochen knirschten wie Geäst im Sturm. Die rot-öligen Bänder zuckten. Erst nach ein paar Augenblicke erstarb das Gelächter, gar wirkte das Skelett wie ausgewechselt. Welch Stimmungsschwankungen!

»Schließ dich mir an und wir werden gemeinsam diese Welt von den Blutsverrätern namens Adel befreien.« Ihr zweigähnlicher Zeigefinger deutete auf die Rothaarige. »Ich wünsche mir eine Welt, in der Frieden herrscht. In der keiner für andere entscheidet. Eine Welt, in der jeder frei und unabhängig ist. Möchtest du das nicht auch?«
Alenja schwieg ein paar Herzschläge lang und ließ die Worte auf sich wirken.

Freiheit.
Unabhängigkeit.
Zwei Begriffe, die tief in ihrer Seele hausten.

Aber diese Verstellung war zu utopisch um wahr zu sein. Einfach absurd! Grotesk! Eine friedliche Welt unter Menschen würde es nie geben. Sie hatte vielleicht nicht viel Zeit unter ihresgleichen verbracht, doch allein die Tatsache, dass Menschen nur aufgrund der Haarfarbe morden, zeigte deutlich, wie grausam und unbarmherzig sie überhaupt waren. Pah! Wie sollten Egoisten lernen, in Harmonie miteinander zu leben. Niemand zu unterdrücken, niemanden...

»Nein!«, zischte die Kreatur und unterbrach damit ihre Gedanken. »Das ist die Zukunft. Wir werden den König stürzen und ihn für die Morde an den Unschuldigen büßen lassen!«
»Woher schöpft Ihr eure Überzeugung?«

Als hätte Alenja mit dieser Frage einen Hebel umgesetzt, färbten sich die roten Augen urplötzlich in ein strahlendes Weiß, reiner, als es die Unschuld je hätte sein können. Das kalte Licht begann immer mehr von der Umgebung zu verschlingen, bildete einen starken Kontrast zu der Dunkelheit. Alenja kniff die Augen zusammen. Was in Maoilias Namen ging hier vor sich?

Überall blendendes Weiß. Farblos. Immer wieder blinzelte das Mädchen, aber eine freie Sicht war schier unmöglich. Dann erklangen Stimmen, anfangs zu tausenden, die sich zu einer einzigen Melodie erhoben. Hell und deutlich, klar wie eines Kristalles Tiefe: »Ein düsterer Feind zerstört das Lebensband,
das Königreich wird fallen durch seine Hand.«

Kaum fiel das letzte Wort, erlosch das Strahlen schlagartig. Das Feuer, welches sie anfangs umgab, kesselte sie wieder in mauernhohen Flammen ein. Was zum? Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Dies war das Werk von Hexerei, jene Worte, die von der Kirche verspottet wurden und in Ungnade fielen. Des Teufels Verrichtung. Alenjas Atem stockte. Sie wagte nicht die plötzliche Stille zu durchbrechen, schluckte den Kloß in ihrem Hals hinab. Was hatte das zu bedeuten?

Der Bund der RabenmaskenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt