𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟓.𝟐: 𝐈𝐨𝐬𝐤𝐚𝐝

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Ein ohrenbetäubendes Donnern und Poltern, vermischt mit einigen schockierten und furchtsamen Schreien der Stadtbewohnern, erklang an ihre Ohren. Türen wurden laut zugeschlagen und hektische Rufe wurden von unruhigem Pferdewiehern überdeckt. Trotz der geschlossenen Türen, konnte Helena das gewaltige Geräuschkonzert vernehmen. Es kam ihr vor, als würde auf tiefem Bass und grummelnder Trommel die hohen und wenig schrillen Töne einer Flöte folgen. Der Regent schien dabei vergebens für Ordnung zu sorgen, denn es klang wie ein wütender Sturm, launenhaft und chaotisch zugleich.

Das Mädchen wurde hellhörig, als der Lärm plötzlich so abrupt stoppte, wie er auch begonnen hatte. Sie war zwar etwas irritiert, was dort draußen geschehen war, dachte sich aber im ersten Moment nichts dabei. Erst als es schallend an der Haustür klopfte, zog sich ihr Magen unwillkürlich zusammen. Sie wechselte kurz einen Blick zwischen ihrem Vater, der sich von ihr abgewandt hatte und wieder das Dach fixierte, und Richtung Tür. Yoricks Mimik war ausdruckslos und sein Körper hob und senkte sich flach. »Ich komme gleich wieder und dann könnt Ihr mir alles erzählen, was Ihr möchtet.«
Wären Yoricks Worte so wichtig gewesen, hätte er ihr sicher früher davon berichtet. Die Rothaarige bedachte ihren geliebten Vater aus ihren leuchtend grünen Augen, dann stand sie auf und setzte sich in Bewegung.

Es klopfte erneut, wobei es energischer als vorher erklang. Wer das wohl sein könnte? Vielleicht interessierte Käufer ihres Vaters? Je näher sie der Haustür kam, desto lauter dröhnte ihr Herzschlag in ihren Ohren. Bisher hatte Yorick - abgesehen von gestern Abend - die Tür für Fremde geöffnet. Er hatte seine Kundschaft in Empfang genommen, während sie selbst in ihrem Versteck vor sich hin schwieg und hoffte, nicht entdeckt zu werden. Dies war der Grund, warum sie trotz der Ioskad noch lebte. Aber jetzt, wo der Schwarze Tod von Yorick Besitz ergriff, musste sie die Tür öffnen. Schlimmstenfalls würde Verdacht geschöpft, dass es ihm Hause der Kegans nicht mit rechten Dinge zugehe.

Am Eingang angelangt, spähte das rothaarige Mädchen vorsichtig durch einen der winzigen Löcher in der Holztür, das bereits von kleinen Tieren zersetzt wurde. Ihr Atem stockte, als sie die Gestalten erkannte, die im Gegenlicht als dunkle Silhouetten erschienen. Sie alle trugen die unverwechselbare, vom Licht reflektierende Rüstung der königlichen Ritter. Nicht schon wieder!, seufzte sie innerlich und zog schnell ihren Kopf beiseite. Die Edelmänner schienen fest entschlossen, ihr in diesen dunklen Stunden keine Ruhe zu gewähren.

Die Frage, die sich ihr stellte, war, was die Ritter hier zu suchen hatten... erneut, in so kurzer Zeit. Ihre Gedanken begannen zu rasen, dass ihr beinahe davon schwindlig wurde. Hatten die Ritter etwa Verdacht geschöpft? Wussten sie von ihrem Geheimnis? Mit jedem weiteren Einfall beschleunigte sich automatisch ihr Herzschlag. Hatte der Heilerlehrling sie verraten? Ihr Herz klopfte so wild, dass sie beinahe das Gefühl hatte, es würde ihr aus der Brust springen. War... nein, oder etwa doch? Sie traute sich kaum, die Überlegung zu Ende zu spannen. Sollte sie um ihr Leben bangen?

In ihrem Kopf übertönte ein hämisches Lachen alle anderen Überlegungen: Dieses Mal ist kein netter Heiler hier, der dir dein Gesäß rettet. Bei dieser Erkenntnis musste sie schwer schlucken. Verflixt und Zugenäht! Hör auf, dir selbst Angst einzujagen!, ermahnte die junge Frau sich. Jetzt war definitiv keine Zeit für Gedankengespinste. Jetzt war die Zeit zum Handeln. Sie musste die Tür augenblicklich öffnen.

So blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre wilden Locken unter Stress zu zähmen und in einen halbwegs festen Knoten zu binden. Sie griff nach ihrem dunkelgrauen Umhang und setzte die Kapuze, die tief in ihr Gesicht fiel, auf. Um sich zu versichern, dass sich keine ihrer roten Strähne aus dem Knoten entwand hatten, huschte sie geschwind mit den Augen über die die Schultern. Dann bemühte sie sich um eine mehr oder weniger elegante, gerade Körperhaltung, wie es von einer vornehmen Dame erwartet wurde, und atmete tief durch, ehe sie die Tür knirschend öffnete.

Ein Trupp von fünf Ritter stand vor ihr. Die Etikette hätte jetzt sicher einen Knicks ihrerseits vorgeschrieben, aber wen kümmerte das? Sie ganz sicher nicht. Auch wenn sie so ziemlich alle Bücher über am Hofe, die Yorick besaß, gelesen hatte, so war ihre Sozialkompetenz auf diesem Gebiet auf einer Skala von eins bis zehn doch eher eine Null. Schließlich hatte sie noch keine Erfahrungen mit Adligen sammeln können.

Stattdessen schaute die Rothaarige die Edelleute unverwandt an. Halte den Blickkontakt, lasse die Stille für dich sprechen. Ihre Augen formulierten die Worte, die niemals ihre Lippen verlassen durften: Ich bin kein Licht, das man nach Lust und Laune ersticken kann. Ich bin ein todbringender Feuersturm und habe bereits meine Flammen um mich errichtet.

Der vorderste Ritter, im Gegensatz zu seinen Kumpanen wirkte er kleiner, ging unbeeindruckt einen Schritt auf sie zu, sodass er direkt im Türrahmen stand und sie damit unweigerlich ins Haus zwang. Helenas Herzschlag beschleunigte sich weiterhin. Der Weg war nun von fünf Muskelpaketen versperrt. Stolz hob der kleine Ritter den Kopf und war offensichtlich der Meinung, das edelste Geschöpf in der Umgebung zu sein. Seine blaugrauen Augen blickten wachsam, als würde ihnen niemals etwas entgehen.

Was für ein Schnösel, huschte der Gedanke durch ihren Kopf. Sie wollte nicht nonverbal ihre Angst vermitteln, obwohl ihr Herz erneut den Versuch startete, aus ihrer Brust zu springen. Endlich sagte der kleine Ritter, wahrscheinlich der Anführer: »Hiermit nehmen wir Euch fest. Ihr seid der Ioskad angeklagt.« Auch, wenn sie den Grund erahnt hatte, so war es doch ein Schlag ins Gesicht, es ausgesprochen zu hören. Von jemand fremdes. Von jemanden, dem ihr Leben gleichgültig war. Für all diese Ritter war sie wertlos, hatte kein Recht zu leben.

Bevor Helena die Gelegenheit hatte, etwas erwidern zu können, blaffte er kühl einen Befehl: »Ergreift Sie!« Seine Mitstreiter huschten flink an ihm vorbei, während das Mädchen Schritt für Schritt zurückwich. Ihre Pupillen weiteten sich vor entsetzten, als die riesigen Männer wie ein einziger Wall, der viel zu mächtig war um von irgendjemandem erklommen zu werden, nach vorne trieb.

Die Ritter kesselten sie immer weiter ein, bis Helena mit dem Rücken an der Wand gedrückt und wie auf dem Silbertaplet präsentiert da stand. Sie musste schwer schlucken. War es das also? Ihr Ende? So sollte sie von dieser egoistischen, machthungrigen Welt Abschied nehmen? Als Häufchen Elend, das bald in Vergessenheit geriet.

Früher, als kleines Kind, wollte sie etwas im Leben erreichen, wofür man auf ewig ihren Namen und ihre Geschichte erzählen würde. Helena, die Tapfere. Helena, die Glorreiche oder auch einfach nur Helena. Enttäuschung breitete sich in ihr aus, als sie von ihrem Schicksal erfuhr, für immer eine Außenseiterin zu bleiben und ihren Traum damit aufgeben zu müssen. Doch sie lernte, mit ihrem Schicksal zu leben.

Immerhin wusste die junge Frau, dass die Ritter sie noch nicht töten würden - jedenfalls noch nicht jetzt. Erst musste sie zum König geführt werden, das war immer so. Wenn das mein Schicksal ist, nehme ich es mit meiner letzten Würde entgegen. Das Mädchen drückte sich von der Wand ab und stellte sich aufopfernd vor den Wall. Na loss. Macht schnell. Sie streckte ihren Gegner die Hände entgegen. Lebe wohl, Freiheit!

»Haaalt!«

Der durchdringende Schrei erinnerte an ein zerkratztes Kristallglas, einerseits klar und auf ihre Weise melodisch, doch andererseits auch rau, als würde derjenige bemüht um einen lauten Ton sein. Helenas Peiniger stoppten bereits und reckten die Köpfe nach allen Seiten. Sie hingegen zuckte erschrocken zusammen, zog ihre Arme schützend an ihren Körper und fuhr mit ihrem Kopf hektisch zu allen Seiten um das Geräusch lokalisieren zu können.

Die Ruhe vor dem Sturm... der nächste Teil wird actionreichen😄 Wie gefiel es euch?

Der Bund der RabenmaskenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt