Kapitel 11.1: Wie ein Vogel im Käfig

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Aus der Handschrift der Geistheilung:

Ausgeschlossen ist das Versprechen auf Genesung, ob Heilung oder Linderung. Deshalb ist der Heiler dazu verpflichtet, seine Klienten zu ermahnen, niemals ihre Hoffnung auf ihn zu setzten.

Wann werden wir geboren? Und wann segnen wir das Zeitliche? Was ist der Grund für unser Dasein? Warum sterben wir?

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Wann werden wir geboren? Und wann segnen wir das Zeitliche? Was ist der Grund für unser Dasein? Warum sterben wir?

Das Leben in Elidor durchlief permanente Wiederholungen wie das Wasserrad einer Mühle. Phasen der Ankunft und des Unterganges standen in einem ständigen Wechsel, dessen treibende Kraft, das Elixier des Lebens, was auch immer dies sein mag, die eigentliche Zutat des Lebens bildete.

Nael war sich sicher, dass dieses Lebenselixier in jeglicher Form, Farbe und Größe existierte. Eine Mischung, die für jeden Menschen speziell angerührt werden musste. Er hatte von einzelnen Methoden gehört, die es einem erlaubten, länger zu leben. Galahad war demgegenüber stets mit Misstrauen begegnet. Es sei nichts anderes als Hokuspokus, abergläubisches Geschwätz der Wanderer, die vor lauter Wasser- und Nahrungsnot den Verstand verloren hätten.

Aber angenommen, natürlich nur rein hypothetisch, ein Heiler konnte dieses Lebenselixier brauen, war im Besitz dieses überaus wertvollen Rezeptes: Wäre ein Heiler dann mächtiger als der Tod? Könnte ein Heiler den Kreis des Lebens nach seinen Belangen ändern? Und die noch viel bedeutungsvollere Frage: Wäre so etwas ohne Hexerei möglich?

Nael fand es aufregend. Allein die Vorstellung hatte einen gewissen Reiz und ein Teil tief in seinem Inneren wollte auf all die Fragen Antworten finden. Eine Möglichkeit, Menschen zu helfen und ihnen ein längeres Leben zu schenken, war genau die Art von Heilkunst, die er erlernen möchte. Obwohl ein kurzes, von selbst gestorbenes Leben als gutes Omen angesehen wurde.

Er wollte kein Bote unheilvoller Kundgebungen sein, wollte stattdessen helfen, die Obliegenheit eines jeden Medicus. Für Nael stand fest: Er wollte Leben retten und den Menschen die Okkasion auf eine bessere Zukunft ermöglichen. Ihnen die Vitalität wieder nahelegen.

Doch nun lag er hier, nicht im Stande sein eigenes Leben zu erretten... so wie das seines Vaters. Eine einzelne Träne rann ihm über seine Wange und zog eine Spur in die Dreckschicht, die sich auf seinen Gesicht gebildet hatte. Die Erinnerung an seinen Vater schien ihn zu übermannen.

Die Triquetta war mit jeden einzelnen Lebewesen verbunden, ob Mensch, ob Vieh. Niemand entkam ihr. Niemand entging ihr.

Geburt.
Leben.
Tod.

Dem Tod Einhalt zu gebieten, hatten nur sehr wenige geschafft: Die Ioskas. Die wahren Hexen. Nicht jene arme Seelen, die irrtümlich der Ketzerei angeklagt wurden und durch die Inquisition ihre angeblich gerechte Strafe erhielten. Diese Seelen fanden im Tode ihre Ehre wieder, denn sie waren keine Kreaturen der Magie. Andere wiederum, jene verdorbenen Seelen, die er meinte und etwa den Scheiterhaufen überlebten, wurden sofort in die Hölle verdammt.

Und er, Nael Caradoc, war gerade im Innbegriff im Angesicht des Todes Seine Unschuld zu beweisen. Das rothaarige Mädchen, Helena, war kaum eine Ioskas und somit er kein Komplize. Doch die Erkenntnis würde für ihn zu spät erkannt werden. Nein, nein, nein. So weit durfte er es nicht kommen lassen!

Plötzlich raschelte es in unmittelbarer Nähe. Nael schlug die Augen auf. Er lag auf dem Boden. Die Umrisse einer fetten Ratte zeichneten sich in dem spärlichen Licht ab. Ihre mörderischen Augen schauten ihn unverwandt an. Er blinzelte, sie blinzelte zurück. Dann verschwand die Flohschleuder aus seinem Blickfeld.

Sein Körper musste bereits etwas ausgekühlt sein, denn die Eiseskälte des Kerkerboden drang kaum noch durch deine Robe. Stöhnend hob er den scherzenden Kopf. Es dröhnte. Seine Gliedmaßen fühlten sich taub an, aber er ignorierte es. Er durfte nicht sterben. Nicht jetzt. Nicht hier.

Nael setzte sich auf, rieb sich die Schläfen. Erst als ihm wieder klar vor Augen war - wirklich erstaunlich, dass ihm trotz der Dunkelheit die Schwärze vor seinen Augen auffiel -, sah er sich um. Wie zu erwarten befand er sich noch im königlichen Kerker. Oder war es bereits die Hölle?

In einer der anliegenden Zellen lag ein Mädchen auf dem Boden zusammengekauert, ein unästhetischer Haufen aus Grün und Rot, zwei Farben, die sich voneinander abgrenzten und zusammen ein unschönes Braun ergaben und doch in gewisser Weise perfekt harmonierten. Das rothaarige Mädchen. Er hatte sie bereits erkannt. Zugegeben, es liegen nur eine Handvoll Ioskas am Helligten Tage durch die Stadt oder wie in diesem Fall am Abend. Es war Helena. Lebte sie noch?

Beim genaueren hinsehen erkannte er ihren flachen Atem. Sehr flach. Sie war also doch nicht, wie es anfangs erst vermutete, auf dem Weg zu den Sterbenden. In das Paradies. Der Garten Eden oder was davon auch existieren möge. Helena wisperte vor sich hin, doch Nael konnte es nicht verstehen. Ohne die zischende Laute hätte er sie für Tod erklärt.

Gegenwärtig würde Helena nur das reinste Grauen erwarten. Wenn sie gehäutet werden würde, ihre zarte Haut den Raben zum Fraß vorgeworfen, Herz und Skelett verbrannt werden würden. Bei dem Gedanken tat ihm bereits alles weg. Es war einfach nur barbarisch und doch die tragische Wirklichkeit.
Während das Volk den König glorifizieren würde, war die Seele der Ioskas auf den Weg in unfassbares, nie endendes Leid. Unter Jubelschreien würde sie die Forten der Hölle passieren und niemals wieder verlassen können. Verdammt, bis in alle Tage Qualen für eine Missetat zu erdulden - aber für welche?

Wäre Helena tatsächlich eine Ioskas, hätte sie doch ganz leicht ihren todkranken Vater heilen können. Für die Hexerei müsste es ein leichtes sein. Die Magie stand bekanntlich über Leben und Tod. Aber wie das alles funktionierte, wusste Nael nicht. Er hatte sich nur mit der natürlichen Heilkunst beschäftigt. Alchemie. Etwas anderes grinste auch an reinen Selbstmord.

Nael sah an sich hinab und klopfte sich etwas Dreck von der Robe, zupfte sein Hemd zurecht und zog ein paar der piksenden Strohhalme, die sich in dem Stoff verfangen hatte, herraus. Irgendetwas klebte an seinem Ärmel. Nass und zäh. Er rümpfte die Nase - roch nichts.

Wie lange er weggetreten gewesen war? Wie spät war wohl es? Nachmittags oder doch schon Abends? Er konnte es schwer sagen, denn hier unten im Kerker schien die Zeit stillzustehen. So musste es sich im Limbus anfühlen, ein von den Klerikern gepredigter Ort, an dem die Zeit still stehe. Ein Ort für ungetaufte, gestorbene Kinderseelen, die nicht die Vernunft erlangten und damit nur der Erbsünde unterlagen.

Helena regte sich und zog seine Aufmerksamkeit auf sie. Nael erhob sich von dem Stroh, das er sich zusammengeschoben hatte, und lief zum Gitter der Zelle. Sie war wie ein Vogel im Käfig, dem die flügel gestutzt wurden. Eine klagende Schönheit in der Stille. Ob Lerche oder Nachtigall war noch herauszufinden.
»Willkommen zurück unter den Lebenden.«
Es wäre besser gewesen, wenn Ihr hier Euer Ableben gefunden hättet, fügte er im Stillen hinzu.

Der Bund der RabenmaskenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt