3.3 | Zeichen des Unheils

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»Galahad, was sucht Ihr? Vier Augen sehen besser als zwei«, bot Nael indirekt seine Hilfe an und hoffte inständig, sein Meister würde ihn von dem entsetzlichen Tagtraum ablenken. Der Angesprochene hob seinen Kopf aus den Büchern. »Ich suche ein Widersacher, eine Art Heilkraut. Wenn die Prophezeiung der Wahrheit entspricht, wovon ich ausgehe, ist Elidor in Gefahr.«

Das ist keine gute Ablenkung, dachte Nael. Nach der Prophezeiung, so bezeichnet von Galahad, hätte er den Grund der Suche wissen sollen. Dennoch fragte er sich, warum er seine durchaus wertvolle Zeit mit etwas so sinnlosen verbringen sollte? Laut dem Klerus gab es haufenweise Prophezeiungen, Vorhersagungen, Visionen und was es noch so gab. Für Nael dienten diese lediglich der Panikmache im Königreich.

Den Bewohnern sollte immer wieder klar werden, das sie den ach so heiligen, weisen Klerus benötigten. Statt ein Zitat von Maoilias hinzunehmen, sollten die Leute sich ihres eigenen Verstandes bedienen. Sie sollten selbst lesen sowie schreiben lernen anstelle einer der Predigten der Heiligen zu lauschen. Die Menschen sollten das Recht besitzen, Sachen hinterfragen zu dürfen.

Leider wusste der Heilerlehrling, dass dies nur einer von vielen Träumen war. Niemals würde der Klerus seine Macht aufgeben. So auch der König, der die Gesetze zugunsten der Kirche in Kraft gesetzt hatte. Eventuell gab es eine Chance, seinem Meister diesen Unfug aus den Kopf zu treiben? Daher antwortete Nael zögerlich: »Nichts für ungut, ich schätze Eure Meinung sehr, aber meint Ihr nicht, dass es sich dabei um reine Dichtkunst handelt?«

Ehe Nael sein letztes Wort ausgesprochen hatte, schnellte der alte Mann blitzschnell zu ihm herum, seine Augen verengt zu winzigen Schlitzen. Heiler und Lehrling standen so dicht beieinander, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. Galahad hatte einen äußerst klaren Blick gegenüber den letzten Minuten und zischte entsetzt: »Neeein! Niemand würde es wagen, solch verheerende Wörter aufzuschreiben ohne wahrhaftigen Grund!«

Auch nicht der Klerus, um an der Macht zu bleiben? Diese Frage stellte Nael nicht laut. Sein Meister schien wirklich daran zu glauben. An eine Prophezeiung von Maoilias. Deswegen nickte der Lehrling resigniert. »In Ordnung, Ihr habt recht«, gestand er und gab sich geschlagen.

Vorerst.

Galahads faltige Hand umklammerte Naels linke Schulter und er spürte wie Wärme und ein sanfter Druck von ihr ausgingen. Die freundliche Wärme eines Heilers zu seinem Schüler und der beklemmende Druck, der auf den Schultern des Meisters lastete. Der Lehrling warf einen flüchtigen Blick auf die Hand, der Geruch von Kartoffeln und Kräutern haftete an ihr, ehe er Galahads schlitzartige Augen fixierte. Der Heiler sprach: »Es ist die Pflicht eines Heiler, sie zu entschlüsseln und den Menschen mit unserem Heilwissen zu retten.«

Retten? Wie sollten sie die Menschheit retten, wenn sie selbst keine Ahnung hatten, woher der Schwarze Tod stammte oder wie er sich überhaupt so schnell verbreiten konnte. Trotz der Zweifel bestätigte der Braunhaarige, der es für besser hielt, seine Zweifel nicht laut auszusprechen: »Offenkundig!«

Er wusste genau, dass Heiler Maoilias treu ergeben sein sollten, mal ganz davon abgesehen ihr Glauben entgegen zu bringen. Aber wie sollte er an jemanden glauben, die nur von aufgeschriebenen Erzählungen lebte? »Demgemäääß«, fing Nael an und zog das Wort in die Längen um etwas Zeit zu schinden »kommt eine Bedrohung auf uns zu?«

Galahad nickte bedächtig und seine Stirn legte sich in Denkfalten. »Ich denke, dass uns die Bedrohung schon längst erreicht hat. Immerhin hat die Krankheit in Elidor schon Wurzeln geschlagen.« Damit ließ er den Sturm entweichen, der viel zu lange ruhte. Der alte Mann wechselte einen vielsagenden Blick mit Nael, der ganz genau wusste, was seinem Lehrer durch den Kopf ging.

Der Schwarze Tod war die finstere Bedrohung, die das Gleichgewicht von Leben und Tod zerstören würde. Die Sonne würde eines Tages über ein blühendes Elidor unter gehen, doch wenn die ersten Strahlen des Sonnenaufgangs den Horizont erhellten, würde ihr Licht auf ein vom Tod regierten Königreich, dessen Boden von Leichen überseht sein würde, scheinen. Der Schwarze Tod würde einen düsteren Schleier über Elidor legen, der selbst für die Nachwelt sichtbar bleiben würde und das Leben aus dem Königreich auf ewig verbannen. Dies war das Ende, so prophezeiten es zumindest diese wenige Zeilen. Wann es soweit war? Das konnte wohl nur die Zeit und gegebenenfalls Maoilias, soweit sie, falls sie überhaupt existierte, beantworten.

Entschlossen erklärte Galahad weiter seine Besorgnis und durchbrach damit Naels komplexe Gedankengänge: »Bei der Ioskas handelt es sich um ein Zeichen. Es war kein Zufall, dass wir ihr mephistophelisches Haar zu Gesicht bekamen.«

Hexe, Verräterin, Gesellin des Teufels, Missgeburt. All diese Wörter wurden in Elidor mit nur einem einzigen Begriff bezeichnet, einem verhängnisvollen Titel. Die, die als Ioskas bezeichnet wurden, waren Angeklagte vor dem König, dem Gesetz und der Kirche. Sie wurden der Zauberei, einen Bund mit dem Teufel eingegangen zu sein, beschuldigt und diese Anschuldigung endete immer mit einem langsamen und überaus qualvollen Tod. Die verzweifelten, schmerzerfüllten Schreie der Folterung, die einem durch Mark und Knochen gingen, hallten oft über das Königreich.

Nael wusste deswegen nicht recht, was er auf die Beschuldigung des Meisters erwidern sollte. Gegebenenfalls lässt er die Verurteilung fallen, wenn Nael von seiner nächtlichen Reise erzählte. Oder sollte er es vorziehen, zu sagen, dass dies der größte Unsinn war, den er heute gehört hatte?

Immerhin hatte er sie gesehen.
Ihr Herz.
Ihre Seele.
Das Herz einer liebenden Tochter.
Die Seele einer temperamentvollen, jungen Dame.

Als er vor Helena stand, hatte er dem Mädchen in die Augen geschaut, in denen trotz ihrer schrecklichen Lebensbedingung kein Hass zu sehen war. Wenngleich ein solch unmenschliches Leben sicherlich einfacher ohne den König, Klerus und den Gesetzen wäre, hatte sie offenkundig nie verlernt was es heißt, zu leben. Auf ihre eigene Art und Weise hatte sie all die Jahre in Elidor überlebt. Nael konnte das Gefühl von aufkommender Bewunderung nicht unterdrücken.

Er war zweifellos der Auffassung gewesen, dass man Menschen mit Büchern gleichsetzten konnte. Man konnte sie lesen, nichtsdestotrotz verstanden nur wenige ihre Botschaft, die versteckte Seele. Manche waren von außen wunderschön, glänzten in ihrer vollen Pracht, hatten einen aufwendig farcierten Einband und waren dennoch von Innen leer. Andere hingegen hatten einen unauffälligen oder gar einen vom Leben gezeichneten Einband, dafür aber eine wundervolle Seele und ein Herz am rechten Fleck.

Jedes Buch erzählte seine eigene Geschichte, die geprägt von seinen Memoiren waren. Etliche von ihnen durchschaute man sofort, ein paar musste man erst gelesen haben, um zu verstehen. Auf eine gewisse Art war jedes anders, auch wenn sie alle auf den ersten Blick gleich erschienen, ein Einband mit einer Ansammlung von beschriftetem Papier. Keins war wie das andere, aber dennoch glichen sie sich. Alle Menschen und Bücher hatten eine Fassade, einen Einband, der ihr wahres Inneres auf den ersten Blick verbarg. Erst bei genauerem Hinsehen konnte man sie entdecken und vielleicht auch verstehen.

Doch Galahads Vorwurf brachte seine Sichtweise zum wanken. Sein Meister war sehr weise und hatte viel Lebenserfahrung sammeln können. Konnte es also nicht sein, dass er Recht hatte? Konnte es sein, dass Helena doch scheinheiliger war wie Nael annahm? Konnte es sein, dass der Lehrling sich von ihrem Äußeren täuschen hat lassen?

Nael knief seine Augen zusammen, legte seine Stirn in Falten und musterte seinen Lehrer verunsichert, dessen Aufmerksamkeit wieder den Büchern galt. Der Blick des Mannes wurde wieder von einem trüben sowie verwirrten Schleier überzogen und er blätterte eine der vergilbten Seiten um. Der Geruch von altem Papier wehte Nael entgegen, der aufhorchte, als Galahad mehr zu sich selbst als zu seinem Schüler flüsterte: »Die Ioskas wird nicht mehr lange unter uns verweilen...«

So, dass war das zweite Kapitel aus Naels Sicht. Er wird immer mehr zu einem der Vorreiter der Aufklärung🙈
Wie einigen von euch sicher aufgefallen ist, hat das Kapitel einen neuen Titel bekommen. Ich fand „Zeichen des Unheils" treffender als „Jeder Anfang hat ein Ende". Was meint ihr dazu?

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