Kapitel 12.3: Der Fluss der Magie

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Zu ihrer Enttäuschung ging Runa auf ihre Frage nicht ein. Kopfhängend, rote Haarsträhnen fielen ihr dabei wieder lästig ins Gesicht, überdachte sie die eben gehörten Worte sorgsam. Konnte es wirklich wahr sein? Ihre Mutter? Eine Ioska?

Alenjas Kehle zog sich zusammen, denn sie wusste ganz genau, was dies bedeuten würde. Dass ihr Vater, den sie bisher für den schlausten Mann, den sie je gekannt hatte, hielt, einen Fehler begannen hatte. Ob es dieser Fehler war, den Runa meinte? Einen schwerwiegenden Fehler, der eine überaus selbstzerstörerische Kraft mit sich brachte?

Ihr wurde auf einmal speiübel. Vermutlich war ihr Vater ein Narr gewesen. Ja, das musste es sein. Ein Narr, blind vor Liebe. Sie verzog das Gesicht. In gewisser Weise musste Alenja es in Betracht ziehen, obgleich ihr dieser Gedanke sehr missfiel, schließlich erzählt die Sage um das Sakrileg der Ioska von ebendieser Fähigkeit, einer heimtückischen Tarnung vor dem Auge des Menschen. Und beinhaltete nicht jede Geschichte einem Fünkchen Wahrheit?

Sie musste schwer schlucken, versuchte den Klos im Hals loszuwerden. Ihr Vater, nein, ihre komplette Familie war somit ... Schluss! Für solch absurde Gedanken bleibt keine Zeit herrschte Runa sie an, Wut loderte in ihren Augen und sie schlug mit ihren Flügeln.

Pah. Runa hatte leicht reden, wobei auch sie recht haben könnte, vorausgesetzt, an der Saga war ein gewisser Grad Realität gebunden. Ausschließen konnte sie nicht, dass ihr zunehmend kälter an Hand und Fuß wurde. Als hätte sie jemand in einer der schrecklich frostklirrenden Winternächte in einen Fluss gestoßen, dessen gefrorene, oberste Flussschicht unter ihrem Gewicht zu tausenden von Scherben zerbrach. Dabei floss das Wasser jetzt noch stetig voran. Doch auch ihre bläulichen Lippen begannen zu schlottern, die Haare an ihren Armen standen ihr zur Berge und ihr Herz begann wild zu klopfen.

Du musst schnellstmöglich aus dem Wasser, Feind der Magie, sonst entzieht es dir deine Kräfte.

Innerlich seufzte sie. Nun gut, Runa. Fürs erste gebe ich mich geschlagen. Fürs erste... „Wie?"

Der Vogel schien besänftigt, zumindest das wütende Glühen war verschwunden. Sie hob stolz den Kopf, ehe sie begann zu erzählen: Schließ deine Augen, öffne deinen Geist und spüre die Magie: Sie umfließt alles. Sie ist alles. Mehr als das Leben, weniger als der Tod.

Alenja zögerte kurz, die Muskeln vor Aufregung angespannt, doch dann tat sie es. Mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen wartete sie, was wohl passieren würde.

Sie schwebte. Um sie herum war nichts als klirrendes Wasser, das ihre Kleidung bis auf die Haut getränkt hatte. Das Flussrauschen strömte durch ihre Ohren. Mit einer leichten Bewegung kippte sie ihre rechte Hand. Für einen Moment wich das Wasser.

Kurz erfasste sie ein Zittern, dann erblühte eine mollige Wärme tief in ihrem Innersten, verbreitete sich kribbelnd wie winzige Flüsse während eines schönen Sommermorgens in ihrem ganzen Körper und ließ schlagartig die Kälte weichen. Sie erschauderte und kniff die Augen fester zusammen. Das Blut in ihren Ader begann wieder zu fließen. Sie hörte es in ihren Ohren. Sie spürte Leben in ihren Gliedern. Ihr Herz begann sich zu beruhigen.

In dem Moment fühlte sie sich geborgen wie lange nicht mehr. Als würde sie in den schützenden Armen ihrer Familie liegen. Als könnte nichts und niemand sie ihrer Macht berauben. Als wäre sie so
unbezwingbar wie der König selbst.

Mit neuer Kraft drehte sie leicht ihre Hände und wie durch Zauberhand wurde ihr Körper von einem Strudel erfasst und schwebte sachte nach oben, was sich im Gegensatz zu dem freien Fall wie ein Ritt auf einer flauschigen Wattewolke fühlte.

Sie brach mit dem Kopf voran durch die Wasseroberfläche. Die frische Brise, die ihr um die Nase strich, hieß sie begierig willkommen. Hastig atmete sie ein. Tief und lang. Und als sie wieder sicher mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand, fiel sie auf die Knie. Erschöpft ließ sie den Kopf hängen. Sie lebte - ein Phönix, auferstanden aus der Asche der Furcht. Langsam begannen die Worte in ihrem Kopf Sinn zu ergeben. Es dämmerte ihr, dass sie nur haarscharf dem Tod entkommen war. Das alles nur wegen Runa. Wegen Magie, die sie bis vor kurzem abschätzig gegenüber stand.

Plötzlich huschte ein Lichtschein an ihrem Augenwinkel vorbei. Sie drehte den Kopf und erhaschte für einen Augenblick wie Runa einen weiteren Körper aus dem Wasser zog. Tropfend lag das unbewegliche Bündel neben ihr. Sie betrachtete das Häufchen Elend genauer. Alenja stockte der Atmen, ehe sich kurz ihre Stirn kräuselte. Es war der Heilerlehrling. Warum im Namen von Oslas hatte sie ihn gerettet? Die braunen Haarsträhnen klebten ihm wild im Gesicht.

Auf einmal starrte sie in die glühenden Augen Runas. Dem Mädchen entfuhr ein kurzer Schrei. Sie hatte also recht behalten. Ein Wesen der Magie. Sollte sie das wundern? Nicht wirklich. Nach Schattenschwinges angsteinflössenden Auftritt war das hier das wohl erstaunlicherer Ereignis, das ihr je widerfahren war. Der Vogel öffnete den Schnabel. „Oh, nein. Ich bin längst nicht so gefährlich wie SIE." Alenja zuckte nur. Momentan war es ihr egal. Hauptsache sie lebte...

„Ja", murmelte Runa. „Der Funke wird entflammt."

Bevor Alenja die Worte überhaupt realisieren konnte, sauste Runa mit einem ohrenbetäubenden Schrei auf sie zu. Der Stoß wehte sie um und zog sie in ein Reich voller Finsternis.

Der Bund der RabenmaskenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt