Kapitel 11.2: Wie ein Vogel im Käfig

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Das Mädchen regte sich und hob den Kopf. Selbst in dem schwachen Licht war ihr irritierter, beinahe schon verwunderter Blick aus weiter Ferne sichtbar.
»Entschuldigt bitte, geht es Euch gut?«, fragte Nael.
Gut, dachte er. Offenkundig ging es ihr nicht gut. Was für eine Erkundigung. Diesen Gedanken musste das Mädchen ebenfalls gehabt haben, denn ihr Kopf schnellte zu ihm und in ihren Augen blitzte es gefährlich auf.

»Ja. Ja, mir geht es blendend«, zischte sie mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Wenn der wehrte Herr davon absieht, dass die Stunden meines überaus unwürdigen, irdisches Dasein an einer Hand abzuzählen sind. Alles bestens. Danke der Nachfrage!«

»Verzeiht«, murmelte Nael etwas überrumpelt, nicht ganz gewiss, ob dies vor ihm ein und dasselbe Mädchen wie von letzter Nacht war. Von Angst oder Unsicherheit fehlte jede Spur.
»Unerquickliche Frage«, kommentierte sie. Unerquickliche Antwort, dachte er und setzte einen neuen Versuch an: »Wenn ich irgendetwas für Euch tun kann, dann...«,
»Die Klappe halten wäre reizvoll.« Ihr Temperament glich dem eines ungezügelten Mustangs, der erst gebrochen werden musste.

Erstaunt zog er die Augenbrauen hoch. »Wie bitte?«
»Ihr habt mich genaustens verstanden. Ihr scheint mir alles andere als stupide, aber dennoch ändert es nichts an Eurem frechen Verhalten. Erst platzt Ihr bei mir ins Haus...«
Das nannte er Hilfeleistung.
»Führt die Wachen zu mir..."
Reiner Zufall.
»Verteidigt mich auch noch..."
Und das war schlimm weil?
»Und obendrein leistet Ihr mir auch noch in meinen letzten, beschissenen Stunden Gesellschaft.«

Das gabs doch nicht. Die Fassungslosigkeit fiel von Nael und er knurrte: »Vielleicht solltet Ihr eure Prioritäten klären.«
»Ich erkläre Euch mal was. Bevor Ihr in mein Leben geplatzt seid, war alles bestens!« Pah! Er verdrehte die Augen. Sie führte ein Dasein im Schatten und nannte dies alles bestens? Sie hatte definitiv Probleme. Gewaltige.

»Ihr kamt zu mir und batet um Hilfe«, stellte Nael klar, doch Helena war nicht auf den Mund gefallen wie er bereits gemerkt hatte. In einer anderen Situation hätte er diese Eigenschaft bewundert, doch gegenwärtig handelte ihnen ihr Starrsinn nur noch mehr Ärger ein.
»Ich kam zu Galahad. Nicht zu seinem unerzogenen und überaus unfähigen Schoßhündchen!«, korrigierte sie mittlerweile mit bissigem Tonfall.
Er verdrehte genervt die Augen. Er suchte nicht den Streit, sondern eine Fluchtmöglichkeit. Nael atmete tief ein und aus.
»Diese Diskussion führt zu nichts«, sagte er ruhig.
»Da sind wir ausnahmsweise einer Meinung.«

Damit drehte sie ihm den Rücken zu. »Bei Maoilias Haaren«, seufzte er und wandte sich ebenfalls ab. Dieses Mädchen war einfach unverbesserlich. Klagende Schönheit in der Stille? Besser: Ungezogenes Rothaar in Gefangenschaft! Definitiv eine Nachtigall, aber dennoch... faszinierend. Auf ihre eigene, störrische Art und Weise.

Nael starrte eine Weile vor sich hin. Ab und an huschte eine Ratte vorbei. Es war nur ein Schatten, doch es genügte, dass er das Mahl - falls man diese schmuddelige Pampe so bezeichnen konnte - nicht anrührte. Bereits am ersten Tag bei Galahad lernte er, dass Sauberkeit von größter Importanz war. So sehr sein Körper sich auch nach Wasser sehnte, würde er dem Verlangen nicht nachkommen und das verdreckte Wasser trinken. Das erklärte, warum die meisten Menschen nach einem Aufenthalt im königlichen Kerker starben. Kein Wunder, sondern eine einfache Antwort der Geistheilung. Allein der Gestank brachte einen langsam um, benebelte die Sinne bis in einen ewig andauernden Schlaf, der ihm gerade sehr verlockend erschien und - Klick. Er spitzte die Ohren.

Klick.

Da war es wieder. Er hatte es genau gehört. Verdutzt sah er sich um. Das klang wie... Bei Maoilias Haaren! Das war unmöglich. Er blinzelte. Das konnte nicht sein. Die Tür zu Helenas Zelle war aufgesprungen, aber er sah weit und breit keinen der Wächter. »Wie habt Ihr?«
Die Rothaarige trat in den Gang und blickte ihn an.
»Wie man eben eine Tür öffnet«, schnaubte sie, aber Nael konnte den leicht irritierten Tonfall heraushören. Er versuchte sein Tor zu entriegeln, doch es funktioniert nicht - Überraschung, Überraschung. Jetzt machte er sich noch zum Narren.

»Ach, geht mal zur Seite!« Helenas energische Stimme ließ ihn sofort gehorchen und neugierig beobachtete er, wie das Mädchen die Hand ans Schloß ansetzte und wieder das Klick erklang. Unfassbar! Nael blinzelte ungläubig die geöffnete Tür an. Vorsichtig, als könnte dort draußen sich sofort einer der Wächter auf ihn stützen, trat er hinaus in den Gang, der seitlich von den Zellen begrenzt wurde.

Mit neuer Interesse musterte er Helena. Sie war zwar der Ioskad angeklagt, jedoch gab es diese nicht - zumindest war Nael in dem Glauben. Bis jetzt. Er dachte immer, dass es für alles eine Erklärung gab. Dass sich alles mit Forschung erklären ließe. Sollte er sich getäuscht haben?

»Wollt Ihr da jetzt stehen bleiben und Wurzeln schlagen?«, unterbrach sie ihn. »Kommt!«
Sie trat vorsichtig auf den Ausgang zu, Nael folgte ihr. Hinter der dicken Holztür sah er die dunklen Silhouetten der beiden Wächter durch das rechteckige Guckloch.

»Was ist mit denen?«, flüsterte er. »Übermannen?«, schlug sie vor. Ja klar. Er war weder ein kräftiger Bauer, gestärkt von der harten Knochenarbeit auf den Felder, noch ein kampferprobter Ritter, der seit Beginn seiner Ausbildung ein gezieltes Training erhielt. Er war nur ein Heiler, der Kräuter zusammenmischte. Sie war nur eine Ioskas, eine Angeklagte, jene Kreatur, die nicht leben dürfte - leben sollte. Hatten sie also irgendeine Chance?

Bevor er einen weiteren Gedanken daran verschwenden konnte, klopfte Helena an das dicke Holz. Augenblicklich drehten sich die Schatten zu ihnen um, sein Herz rutschte ihm in die Hose. Im selben Atemzug duckte sich das Mädchen weg, sodass sie aus der Sicht der Wächter verschwand. Nael jedoch stand wie auf dem Silbertablett serviert da. Erstarrt zu einer Skulptur, die aus Stein gemeißelt wurde.

Verflucht sei Helena!, war sein letztes Bedenken, bevor die Krieger, beide von stattlicher Größe, die Tür öffneten und ihm den Weg versperrten. Nael stand kurz vor einem Schweißausbruch.
»Zurück in die Zelle mit Euch, Abschaum«, knurrte einer von ihnen. Das warnende Knurren eines Tieres, dass die Situation ernst war. Sehr ernst.

Doch er stand einfach da. Mit wild pochendem Herzen und stockender Atmung, nicht fähig, sich zu rühren. Jeder andere wäre einen Schritt zurückgetreten, so nicht Nael. Versteinert und mit großen Augen blickte er die beiden Wächter an, denen die Situation langsam zu nerven begann. Er erkannte es in ihren funkelnden Blicken. Sie waren gelangweilt von dem Leben. Eine, wenn nicht die gefährlichste Mischung, die jeden Skrupel von ihnen nahm.

Die Wachen plusterten sich vor ihm auf, als würde ihre imponierende Größe Nael nach hinten zwängen. Sie hinterließ Eindruck und wirkte in dem schwachen Licht, das die Konturen der Muskeln umrandete, schaurig - mehr aber auch nicht. Für Nael reichte es. Seine Hände begannen zu zitterten.

Und dann sah er es, sah sie. Ein dritter, kleinerer Schatten fiel ihm auf, der mit den anderen zu verschmelzen schien. Er huschte hinter den beiden Wächtern vorbei. Es war... Helena.



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