𝐊𝐚𝐩𝐢𝐭𝐞𝐥 𝟔.𝟐: 𝐃𝐚𝐬 𝐀𝐮𝐠𝐞 𝐝𝐞𝐬 𝐏𝐡𝐨𝐞𝐧𝐢𝐱

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Cedrics Versuch, den König Honig ums Maul zu schmieren, verlief nicht ganz nach seinem Plan. Zwar wirkte der Regent entspannter, winkte aber die Bemühungen des Ritters mit einer raschen Handbewegung ab. Stattdessen erhob sich der König und stolzierte die drei Treppen hinab, die den Thron erhoben und vom restlichen Saal trennten. Der rote Saum seines Mantels strich dabei leicht den Boden. Sofort verfiel Cedrics Körper selbsttätig in die Verbeugungshaltung, die von den Untertanen gewünscht war, sobald ein Aristokrat im Raum herum stolzierte oder jenen betrat oder verließ. Zur Verblüffung aller schritt der König an Cedric vorbei auf das am Boden liegende Mädchen zu.

Totenstille regierte den Raum.
Niemand wagte es zu atmen.
Niemand wagte die Stille zu durchbrechen.

Lediglich die Königsschritte schallten unüberhörbar in einem gleichmäßigen Takt. Trotz der verbeugten Haltung erhaschte Cedric einen Blick auf das Geschehnis. Sie lag wie auf dem Silbertablett serviert vor den Füßen des Regenten, der wie ein Raubtier um sein Opfer herum lief, als würde er das Mädchen von allen Seiten genau inspizieren wollen, ihre Schwachstelle ausfindig machen. Krumm und schief lag die Verfluchte seitlich auf dem kalten Boden, Beine angewinkelt und die Arme ausgestreckt.

»Das ist also die Ioskas«, stellte König Raigan klar und seine Stimme hallte unnatürlich düster von den Wänden ab. Cedric, unschlüssig, was er jetzt tun sollte, nickte stumm. Solange sich Cedric und jeder andere ihm Thronsaal verbeugte, war es ihm, wie allen anderen Untertanen auch, untersagt das Wort zu erheben. Daher blieb dem jungen Ritter vorerst keine andere Wahl als die beiden weiterhin zu beobachten. König Raigan blieb vor dem Häufchen Elend stehen und stupste dessen Arm grob mit einem seiner schwarz glänzenden Schuhe an.

Kaum eine Regung.
Ein festerer Tritt.
Das Mädchen zuckte zusammen.

Ein angewiderter Zischlaut erklang und der Regent rümpfte seine Nase. Überdies kräuselten sich Raigans fahle Lippen. Was er flüsterte, verstand Cedric nicht. Gleichwohl es sich um etwas garstiges handeln musste, denn das Mädchen rappelte sich stöhnend vor Schmerz auf. Mit aller Kraft hielt sie ihren Oberkörper aufrecht, ihre Arme zitterten vor Anstrengung. Ein paar rote Locken ihres zerzausten, abscheulichen Haares fielen der Ioskas ins Gesicht. Ihr olivgrünes Kleid war staubig und zerknittert.

Das schneeweißes Gesicht hatte sie zu einer einzigen Wutfalte zusammengezogen, wodurch ihre Verletzung umso mehr in den Vordergrund stach. Die Brandwunde hatte ihr sonst eigentlich relativ schönes Gesicht verunstaltet. Geschieht ihr recht, urteilte Cedric. Ein gelblicher Strich zog sich quer über ihrer rechte Gesichtshälfte, ließ ihre geschwungenen Wangenknochen beinahe entstellt wirken. Markante, rote und weiße Pocken umrandeten die verbrannte Haut vom Haaransatz bis zum Kinn. Cedrics Brust verkrampfte sich. Alleine der Anblick war dolorös. Lange würde sie nicht mehr unter den Lebenden weilen... dafür würde Raigan schon sorgen.

Plötzlich erhob die Ioskas das Wort. Fehler. Ein wirklich großer Fehler. Alleine dafür könnte der König sie über mehrere Tage einsperren lassen. Keiner wagte es, ohne Aufforderung in Anwesenheit von König Raigan dem IV zu sprechen. Abgesehen von ihr, einer Verfluchten, einer Verurteilten. Cedric hielt die Luft an. Um ihn herum vernahm er scharfes einatmen. Sie alle wussten, zu was der König fähig war. Gnade unbedeutenden Untertanen entgegenzubringen gehörte ganz sicher nicht zu seinem Wortschatz. Gnade gegenüber einer Ioskas wallten zu lassen war ein naives Hirngespinst, ein Todesurteil.

»Ihr«, krächzte sie. »Ihr habt ihn getötet!«
In Raigans Augen trat eine steinerne Härte. Dennoch bleiben seine Gesichtszüge entspannt, so, als würde er die Auseinandersetzung in vollen Zügen genießen. In aller Ruhe. So musste es gemacht werden. Nicht umsonst pflegte man zu sagen, dass in der Ruhe die Kraft lag. Als Antwort zuckte der Aristokrat mit den Schultern. »Und wenn schon. Heute war es der lausige Buchdrucker, morgen einer der unnützen Bauern!«

Der Bund der RabenmaskenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt