Piroska ging nun zielstrebig auf den Hünenwald zu, der sich in der Ferne als dunkle Silhouette abzeichnete. Zunächst kam sie an weiteren Feldern und Weiden vorbei, doch diesmal hielt sie sich nicht mehr als nötig auf. Inzwischen hatte sie es auch eilig und so blieb sie nur zweimal stehen, um die Kälbchen auf der Weide zu streicheln und noch ein weiteres Mal, um die Hörner einer übermütigen Ziege aus dem Flechtzaun zu fädeln. Kurz vor dem Wald hielt sie ein letztes Mal inne, um einige Erbsenschoten zu pflücken. Erbsenpalend und kauend trat sie dann – nach einer Viertelstunde Wegs – endlich unter das kühle, grüne Dach, welches die uralten Bäume bildeten.
Die Bauern hatten die Felder bis an den Waldrand angelegt, um jeden Platz auszunutzen. Der Übergang von Feld zu Wald erfolgte daher unmittelbar und die Atmosphäre änderte sich abrupt. Es war, als hätte jemand schlagartig die Sonne verdunkelt, es wurde spürbar kälter und dunkel. Piroska lief einige Minuten fast blind vorwärts, bis sich ihre Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Dann erst erkannte sie, dass es gar nicht so dunkel war wie sie zuerst geglaubt hatte. An einem dämmerigen Tag war es im freien Feld auch nicht heller als hier.
Auch die Luft roch hier anders. Würziger und erdiger als auf dem Feld, dafür erschnupperte sie hier auch nicht die Ausdünstungen der frisch ausgebrachten Gülle. Und es sangen weniger Vögel. Still war es dennoch nicht. Überall raschelte und trippelte es und Zweige bewegten sich heftig, wenn ein kleines Tier bei ihrer Annäherung hastig im Unterholz oder im Laub verschwand. Einmal fiel ihr etwas Leichtes auf den Kopf und als sie aufsah, konnte sie gerade noch den Schwanz eines Eichhörnchens erblicken, welches sich laut keckernd auf den nächsten Ast schwang. Als sie sich mit der Hand über die Kapuze fuhr, fielen lauter Schuppen von Tannenzapfen herunter. Piroska lächelte; offenbar hatte der kleine Nager gerade seine Mahlzeit gehalten, als sie ihn erschreckt hatte.
Aber jetzt war sie neugierig geworden. Als Kinder waren sie, Stepan, Kriszta und Marian gerne durch die Felder gestreift und über die Weiden gelaufen, aber vom Wald hatten sie sich immer ferngehalten. Die Erwachsenen hatten so entsetzliche Dinge über die Wesen erzählt, die dort lebten, dass die kindliche Furcht über die Abenteuerlust gesiegt hatte.
Später hatte ihre Mutter dann zugegeben, dass ein Teil der Erzählungen tatsächlich Märchen gewesen waren. Riesen und Oger gab es nicht im Wald, ebenso wenig wie Ameisenlöwen, die so groß waren, dass sie einen Menschen mit einem Biss verschlingen konnten. Wölfe und Wildschweine hingegen gab es zuhauf im Wald und beide konnten den Menschen durchaus gefährlich werden. Auch die Wegelagerer durfte man nicht vergessen, die den Reisenden nicht nur auf der großen Straße auflauerten.
Durch den Hünenwald führten nur wenige schmale Wege, die zumeist von Holzfällern und Jägern genutzt wurden, doch wer von der Küste im Norden oder den Städten im Westen in den fruchtbaren Süden reisen wollte, in dem Piroskas Heimatdorf lag, musste den Weg durch den Wald nehmen. So war im Wald zwar bei weitem nicht so ein lebhafter Verkehr wie auf der großen Straße, doch einige hundert Reisende zog es doch jedes Jahr auf diesen Weg. Und nicht alle waren harmlos. Piroska dachte dankbar daran, dass sie ja Marians Messer im Stiefel stecken hatte. Zwar hatte sie keinerlei Kampferfahrung, aber einen Angreifer mit der Waffe zu verletzen traute sie sich schon zu. Immerhin hatte sie schon etliche Tiere zerlegt und ausgeweidet und wusste, wie es sich anfühlte, das Messer durch Haut und Fleisch zu stoßen.
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Das Zeichen der roten Kapuze ✔️
FantasiaPiroska will eigentlich nur der Frau Großmutter, die im Wald lebt, neue Vorräte bringen. Aber dort geht etwas Seltsames vor. Junge Frauen verschwinden spurlos, Reisende werden ausgeraubt und die Wölfe heulen am hellichten Tag. Und ein seltsamer jun...