Ich sehe, dass er weiter tippt, doch ich sperre meinen Bildschirm, weil ich erstens nicht will, dass Valentin einen Blick darauf wirft und zweitens, weil ich plötzlich Angst habe zu lesen, was da noch kommt.
„Ganz so abwegig ist das nicht", fährt Valentin ungerührt fort. „Typen wie der haben doch andauernd Affären. Das ist sowas wie ein Hobby für die."
„Und du bist natürlich ein kompletter Unschuldsengel." Ich werfe ihm einen bedeutungsschwangeren Blick zu.
„Das habe ich nie gesagt, aber selbst ich hab meine Grenzen. Und eine Ehe ist immer noch was, das ich respektiere, ob du's glaubst oder nicht." Er hebt seine Tasse an und nimmt einen langen Schluck.
„Trotzdem finde ich, dass dich das nichts angeht. Du arbeitest schließlich für das Sportressort und nicht die Klatschspalte. Und warum erzählst du mir das überhaupt?"
„Ich dachte bloß, es wäre interessant, das im Hinterkopf zu behalten." Er tippt sich an seine Stirn. „Paul Gärtner ist ein ziemlich hohes Tier in seiner Firma und als Journalist es ist immer von Nutzen, im Besitz möglichst vieler Informationen zu sein. Du weißt schon, so im Sinne von Wissen ist Macht."
„Ja, und nicht wissen macht auch nichts, oder wie?" Mein Versuch, das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken ist zwar nicht besonders originell, tut aber seine Wirkung, denn Valentin schenkt mir sein breitestes Surferboygrinsen und stößt sich dann von der Tischkante ab.
„So oder so ähnlich." Er fährt sich mit einer Hand durch seine Locken und sieht mich einen Moment lang unentschlossen an.
Ich deute mit meinem Kopf zuerst auf meinen Computer und dann auf Herberts Tür. „Ich sollte jetzt wirklich weitermachen. Die Fotos sortieren sich nicht von selbst."
„Aber klar doch. Ich dachte nur, dass du vielleicht —", er unterbricht sich selbst und kratzt mit einem Fingernagel an der abblätternden Farbe seiner Tasse. Dann schüttelt er den Kopf und sagt: „Nichts, vergiss es. Ich sollte jetzt auch weiter an meinem Artikel arbeiten." Er lächelt mich an, etwas verhaltener als üblich, und dann trabt er zu seinem Schreibtisch.
Nun, da ich endlich wieder alleine bin, kann ich meine Neugierde nicht mehr zurückhalten. Ich muss sehen, was Paul mir geschrieben hat, auch wenn ein Teil von mir panische Angst hat, dass er plötzlich nichts mehr von mir wissen will. Ich wische meine schwitzigen Handflächen an meiner Hose ab und entsperre mein Handy.
... und nicht nur das ;) Was hältst du davon, wenn ich uns was vom Chinesen zum Essen bringe? Ich muss immer noch dauernd an unsere kreative Leerraumnutzung von letztem Samstag denken. Du warst so unglaublich heiß und ich kann es kaum erwarten, dich wieder so ganz ohne Latex zu spüren.
Ein erleichtertes Grinsen macht sich auf meinem Gesicht breit, als mir ein Stein vom Herzen fällt. Das Reden bezog sich also auf meine Forderung, mehr über ihn wissen zu wollen und nicht darauf, dass seine Frau plötzlich Verdacht geschöpft hätte. Wenigstens lässt nichts in seiner Nachricht darauf schließen.
Ich tippe eine kurze Antwort, da Herbert plötzlich seinen Kopf aus dem Büro steckt und in meine Richtung schielt.
Donnerstagabend bei mir daheim ist perfekt. Deine Idee gefällt mir :D
Ich sperre schnell mein Handy und widme mich wieder meinem Computerbildschirm.
„Linda, wir brauchen bis heute 14:00 Uhr deinen Artikel, damit es rechtzeitig in den Druck gehen kann. Bist du mit den Fotos bald fertig?" Herberts Gesicht ist heute wieder besonders rot. Das heißt, er hat wohl sein Wochenende hauptsächlich in Gesellschaft einer oder mehrerer Wein- und Bierflaschen verbracht. Die penetrante Fahne rieche ich bis zu mir her.
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Der gestohlene Moment
Romance[WATTYS SHORTLIST 2022]Für Linda ist das Liebesleben gelaufen. Mit 42 Jahren hat sich die geschiedene Mutter einer erwachsenen Tochter damit abgefunden, dass sie ihre Chance auf Lust und Leidenschaft schon längst verpasst hat. Doch dann läuft ihr...