Kapitel 26

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Meine Augen weigern sich meinem Gehirn zu gehorchen. Es hämmert in meinem Kopf und irgendwo in meinem restlichen Körper fühlt es sich an, als wäre jemand mit einem Traktor darübergefahren.

Irgendwie schaffe ich es dann doch, wenigstens ein Auge aufzukriegen und mein Handy vom Nachtkästchen zu mir herzuziehen.

Ich hoffe, du hast die Nacht gut überstanden. Nächstes Mal passe ich besser auf, wie viel du trinkst ;)

Valentins plötzliche Sorge um mein Wohlergehen ist ebenso unerwartet wie süß. Vielleicht kann zwischen uns ja doch noch so etwas wie eine richtige Freundschaft entstehen, auch wenn ich ihm dann gegenüber wohl immer ein schlechtes Gewissen hätte, wohl wissend, dass ich ihm nie das geben kann, was er sich eigentlich von mir erhofft.

Ich schiebe das Handy unter meinen Polster und wälze mich auf die andere Seite, die von meinem Dakimakura belegt ist. Warum müssen zwischenmenschliche Beziehungen auch immer so kompliziert sein?

Wenigstens ist heute Sonntag, also muss ich nicht früh raus. Ich beschließe, den Morgen faul im Bett zu verbringen, da ich meinen langen Lauf ohnehin wie üblich für den Nachmittag geplant habe. Bis dahin sollte ich ausgeschlafen genug sein und die eisige Winterluft wird ihr Übriges dazu tun, mich wieder auszunüchtern.

Es zieht bereits gewaltig in meinen Oberschenkeln von den neunzehn Kilometern, die ich schon gelaufen bin. Die klirrend kalte Luft macht meine Wangen fast taub, und der nicht enden wollende Nebel legt sich wie ein klebriges kaltes Netz um mich. Trotzdem mache ich weiter, denn aufgeben ist keine Option für mich. Der Halbmarathon ist nur mehr acht Wochen entfernt und ich will dann in top Form sein. Mein Stirnband hält meine Stirn und meine Ohren warm und meine Finger stecken in dünnen Handschuhen, mit denen ich trotzdem noch mein Handy bedienen kann. Ich stelle die Musik lauter, bis sie in meinen Ohren dröhnt. Mein Atem kräuselt sich in zarten Wölkchen vor meinen eisigen Lippen. Jetzt noch bis zum Ende des Wäldchens, dann sind die zwanzig Kilometer, die ich mir heute als Ziel gesetzt habe, voll.

Ich fixiere meinen Blick auf die sich verengenden Baumreihen vor mir, aber der dichte Nebel und die tief hängenden Wolken geben mir das Gefühl ins Unbekannte zu laufen, obwohl ich die Gegend hier wie meine Westentasche kenne.

Egal, meine Füße tragen mich weiter, und die Aussicht auf heiße Schokolade als Belohnung danach gibt mir neue Energie.

Plötzlich kribbelt es in meinem Nacken und in mir steigt das unangenehme Gefühl auf, verfolgt zu werden. Ich drehe mich kurz um, aber da ist niemand zu sehen, allerdings ist die Sicht so schlecht, dass ich, sollte da wirklich jemand sein, die Person erst sehen würde, wenn es schon fast zu spät wäre. Mein ohnehin schon durch das Laufen rasant klopfendes Herz legt nochmal ein paar Schläge zu, während ich mein Tempo steigere. Komm schon, Linda, keine Panik, nur weil du so ein diffuses Gefühl hast, heißt das nicht, dass da wirklich jemand ist. Außerdem, so ungewöhnlich wäre das nicht. Du bist schließlich nicht die einzige Person, die die Strecke kennt. Ich stelle meine Musik auf Pause, aber außer dem Wind zwischen den kahlen Ästen und meinen eigenen Schritten ist nichts zu hören.

Es pocht in meinen Oberschenkeln und sticht in meinen Waden. Lange kann ich das schnellere Tempo nicht mehr durchhalten, ohne dass sich das später rächen wird. Ein Muskelriss ist das letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Sowas dauert Wochen bis das ausgeheilt ist. Da kann ich mir den Halbmarathon abschminken. Ich luge nochmal über meine Schulter und da! Da taucht der schemenhafte Umriss einer Person auf, die beständig näher kommt, auch wenn ich nichts Genaues erkennen kann. Der Geschwindigkeit nach zu schließen, muss das auch ein Läufer sein, der Größe nach wohl ein Mann. Keine Ahnung warum mich das gerade heute so unruhig macht. Aber irgendwas ist da komisch. Ich setzte einen Fuß vor den anderen, versuche noch schneller zu laufen, während ich darauf aufpasse, nicht wieder am unebenen Waldboden irgendwo hängenzubleiben. Es sticht in meinen Seiten und die eiskalte Luft brennt in meinen Lungen. Nur nicht umdrehen, nicht zurückschauen. Lauf einfach weiter.

Der gestohlene MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt