Die Musik dröhnt in meinen Kopfhörern während ich den Anstieg in Angriff nehme. Ich ignoriere den ziehenden Schmerz in meiner Wade, wohl wissend, dass das keine gute Idee ist, und treibe mich gnadenlos weiter voran. Ganz oben werde ich mir eine Verschnaufpause gönnen, aber nicht eher. Dunkelgrüne Tannen und sattgrüne Buchen ziehen wie eine sanft wogende Tapete an mir vorbei, während ich den Blick auf den unebenen Waldboden geheftet habe. Der Schweiß steht mir auf der Stirn und mein Atem kommt stoßweise.
Weiter, höher, noch weiter.
Meine Gedanken werden eins mit der Musik und die Aussicht auf eine neue persönliche Bestzeit spornt mich weiter an. Mich komplett auszupowern ist meine Art mich irgendwie durch die Paul-losen Wochenenden zu retten. Ich quäle mich durch die letzten hundert Meter, meine Brust brennt wie Feuer und meine Oberschenkel zittern bereits bedenklich. Berglaufen ist einfach ein komplett anderes Kaliber als das Laufen in der Ebene. Meine Augen auf das Gipfelkreuz gerichtet, bezwingen meine Füße einen Höhenmeter nach dem anderen.
Komm schon, du schaffst das.
Der stampfende Beat von Florence and the Machine treibt mich voran, rettet mich vor dem Aufgeben, lässt mich einen Schritt nach dem anderen machen, bis ich endlich — endlich! — ganz oben ankomme. Wie ein nasser Sack sinke ich auf den erstbesten mit Flechten bewachsenen Felsen und atme erstmal kräftig durch. Ein- und aus, solange bis das leichte Schwindelgefühl wieder abklingt und ich nach meiner Trinkflasche fummeln kann. Nachdem ich die halbe Flasche geleert habe, wische ich mir den Schweiß von der Stirn und checke meine GPS-App. Mit einem zufriedenen Grinsen stelle ich fest, dass ich tatsächlich meine Zeit verbessert habe. Ich schicke Paul einen Screenshot samt einem Foto von mir, die dank der eher löchrigen Netzabdeckung wohl erst viel später bei ihm ankommen werden.
Erst jetzt erlaube ich mir, das atemberaubende Panorama um mich herum zu genießen. Es sind nur einige wenige Wanderer hier am Gipfel und nun, da ich meine Musik auf Pause gestellt habe, sauge ich gierig die Stille der Natur ein wie ein Verdurstender. Schroffe Felsen, bewaldete Höhen, dazwischen türkisblaue Seen, die wie unregelmäßig zugeschnittene Teppiche zwischen den Bergen ausgebreitet liegen. Das tiefblaue Himmelszelt mit ein paar dekorativ verteilen Wölkchen endlos weit über mir. Und die Luft, so rein und klar, dass ich sie mir am liebsten in einer Flasche mitnehmen möchte. Einfach paradiesisch. Na ja, nicht ganz. Dazu fehlt Paul an meiner Seite. Aber da ich mir meinen Endorphinrausch nicht mit trübsinnigen Gedanken verderben will, schiebe ich diese Vorstellung weit weg.
Die Aussicht auf einen gemeinsamen Ausflug zu meinem Geburtstag nächste Woche tröstet mich außerdem etwas über meine beginnende Traurigkeit hinweg. Paul hat mir versprochen, mit mir einen Trip in die Natur zu machen, auch wenn er mir in unserem Videoanruf gestern nichts Genaueres verraten wollte und mich nur verschwörerisch angegrinst hat.
Ich grabe in meinem kleinen Rucksack nach meinem Proteinriegel und einer Banane. Seit Paul sich letzten Donnerstag endlich dazu durchgerungen hat, mir etwas Einblick in sein Eheleben zu geben, hat er mich erstmals zum Wochenende angerufen. Ich sollte das wohl als gutes Zeichen sehen. Sogar unser Sex an jenem Abend war mehr romantisch als heiß gewesen. Gewissenhaft und zärtlich hat er mich verwöhnt, als hätte er mir zeigen wollen, dass ich ihm mehr bedeute, als nur eine schnelle Nummer zwischendurch. Und für einen klitzekleinen Moment, nachdem ich erschöpft auf seiner verschwitzten Brust lag und er langsam über meinen Rücken strich, glaubte ich ihm das auch.
All das änderte natürlich nichts an der Tatsache, dass er die Nacht nicht bei mir verbringen konnte. Ich weiß nicht, warum es so schwer für mich ist, mich daran zu gewöhnen. Jeder seiner Abschiede schmerzt mehr als der vorangegangene.
Mein Handy vibriert und auf meinem Display taucht die Erinnerung an mein Treffen mit Kathi auf, mit der ich zum Eisessen in der Stadt verabredet bin. Anstatt weiter meinen in düstere Gefilde abdriftenden Gedanken nachzuhängen, mache ich mich an den Abstieg, denn wenn ich mich noch duschen und frisch machen will, dann sollte ich jetzt los.
DU LIEST GERADE
Der gestohlene Moment
Romance[WATTYS SHORTLIST 2022]Für Linda ist das Liebesleben gelaufen. Mit 42 Jahren hat sich die geschiedene Mutter einer erwachsenen Tochter damit abgefunden, dass sie ihre Chance auf Lust und Leidenschaft schon längst verpasst hat. Doch dann läuft ihr...