Kapitel 1

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Ich stehe an der Kassa vom Supermarkt und zähle die Sekunden.

Die ältere Frau vor mir manövriert mit zittrigen Händen ihren bescheidenen Einkauf auf das Förderband, während hinter mir ein Herr mittleren Alters mit einem Energydrink und etwas, das verdächtig nach einer Wurstsemmel riecht, ungeduldig auf- und abwippt. Ich bin ja auch nicht wirklich die geduldigste Person auf Erden, aber einer gebrechlichen Frau kann ich durchaus ein wenig extra Zeit zugestehen. Wenn es denn nicht zu lange dauert.

Leicht beunruhigt schiele ich durch die Fensterscheiben hinter der Kassa. Die Dämmerung ist immer noch gut eine Stunde weg, aber wenn ich heute meine lange Laufrunde vor Einbruch der Dunkelheit beenden will, dann wird es jetzt bald knapp. Milch, Vollkornbrot, Käse und Wurst wandern vor mir im Zeitlupentempo auf das Förderband und der Herr hinter mir saugt hörbar die Luft ein. Ja, ja, ich bin ja auch genervt, aber es geht halt jetzt nicht anders.

Natürlich will die Dame bar und mit den kleinstmöglichen Münzen bezahlen, von denen ihr dann auch noch einige ganz ungehorsam auf den Boden rollen. Fünfzehn Minuten später und schweißgebadet, und das, obwohl ich noch keinen Meter gelaufen bin, sitze ich endlich in meinem Auto und fahre nach Hause.

Jetzt aber schnell. Nachdem ich den Einkauf verstaut habe, werfe ich mich in mein Laufoutfit, schnüre meine Schuhe und stopfe mein Smartphone in den praktischen Gürtel, den ich mir um den Oberarm schnalle. Nun nur noch die Kopfhörer, Reflektorband und dann kann es endlich losgehen.

Der Tag in der Redaktion der Lokalzeitung, bei der ich arbeite, hat sich wie Kaugummi gezogen und die Auseinandersetzung mit meinem Chef wegen der vertauschten Fotos für meinen Bericht liegt mir immer noch schwer im Magen. Da brauche ich mindestens sieben Kilometer, um meinen Frust wegzulaufen. Danach werde ich mir ein heißes, entspannendes Bad gönnen und mir einen gemütlichen Abend am Sofa mit Kakao mit Marshmallows und einer Portion Netflix machen.

Für einen späten Nachmittag Mitte März ist die Temperatur ziemlich frisch und der leichte Nieselregen sorgt dafür, dass es auch so bleibt. Perfektes Laufwetter also. Ich starte meine GPS-App und meine Playlist und lege los. Bereits nach ein paar Takten und federnden Schritten entwirren sich meine Gedanken und ich verliere mich in der gleichförmigen Bewegung, die mich vorwärtstreibt und es mir erlaubt, wenigstens für eine kurze Zeit mein eintöniges Leben hinter mir zu lassen. Da ich heute die lange Laufstrecke nehmen will, biege ich nach zwei Kilometern in den Park ab, um dort einmal rund um den kleinen See und dann durch das Waldstück zu laufen, das dann wieder auf den asphaltierten Gehweg zurückführt.

Um diese Zeit sind nur mehr vereinzelte Hundebesitzer unterwegs, einige Pärchen und der ein und andere Jogger. Aber die anderen Leute kümmern mich nicht wirklich, wenn ich in meiner Blase aus Musik und Laufen bin. Das Wasser im See kräuselt sich ganz leicht unter der zarten Brise, die darüber hinwegstreicht. Der Nieselregen hat sich mittlerweile gelegt, aber die Luft ist immer noch herrlich frisch und ich sauge sie gierig in meine Lungen. Das Ende des Sees kommt in Sicht und die untergehende Sonne hängt wie ein feuerroter Ball in den Wipfeln der Tannen, die Teil des Wäldchens sind, das ich jetzt ansteuere.

Für einen kurzen Moment verharre ich versunken in die Betrachtung des Abendhimmels, der zarten orangen und pinken Streifen, die sich wie bunte Bänder um die Baumkronen winden. Ein absolut perfektes Naturgemälde.

Doch ich muss weiter, wenn ich noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder zu Hause sein will. Ich steigere mein Tempo und als ich endlich das Wäldchen erreicht habe, fummle ich an den Einstellungen meines Handys in meinem Gürtel am Oberarm herum, um zu einer anderen Playlists zu wechseln, und in einem Moment der Unachtsamkeit übersehe ich eine Wurzel auf dem Weg. Mein linker Fuß verheddert sich in dem knorrigen Gebilde und nur, weil ich blitzschnell nach einem Ast neben mir greife, lande ich nicht der Länge nach auf dem Waldboden.

Der gestohlene MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt