Kapitel 24

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Der Sommer neigt sich dem Ende und ich sitze gerade im Zug, um Kathi zu besuchen.

Keine Ahnung, wie ich es geschafft habe, mein Leben in den letzten zwei Monaten, zumindest äußerlich, halbwegs normal weiterzuführen, wenn mein Innerstes doch eher einer von einem Tornado niedergemähten Stadt gleicht. Ich habe alles, was mich an Paul erinnert hat, in eine Kiste weggepackt. Die steht jetzt ganz hinten in meinem Kasten und wartet auf den Moment, wenn ich endlich bereit dazu bin, sie endgültig zu entsorgen. Keine Ahnung, wann das je der Fall sein wird. Der Gedanke an Paul schmerzt immer noch und ich muss mich wohl damit abfinden, dass diese Wunde nie ganz heilen wird. Und sollte sie das je tun, dann wird eine hässliche Narbe zurückbleiben. Auf jeden Fall habe ich mir geschworen, nie wieder eine Beziehung einzugehen, egal wie unverbindlich sie sein mag. So schnell kommt mir kein Mann mehr ins Bett. Lust habe ich ohnehin keine, und sollte es mich doch irgendwann mal plötzlich überkommen, dann sind Hektor und Astor definitiv die bessere Wahl. Die haben mich wenigstens noch nie enttäuscht, im Gegensatz zu echten Männern.

Immer länger werdende graue Häuserzeilen und nach oben schießende Hochhäuser ziehen an meinem Abteilfenster vorbei. Ich wuchte meine kleine bunte Reisetasche von der Hutablage über mir und mache mich auf den Weg zum Ausgang.

Mein Handy piepst und eine Nachricht von Kathi leuchtet am Display auf.

Ich warte am Bahnsteig auf dich. Hab eine Überraschung für dich. Freu mich schon, dich zu sehen :)

Da bin ich aber gespannt. Freu mich auch :)

Eine Überraschung? Was das wohl sein könnte? Hoffentlich nichts Schlimmes. Komm schon, Linda, denk positiv. Nicht jede Überraschung ist eine mittlere Katastrophe. Das ist nicht wie die Reise nach Nizza. Kathi ist schließlich deine Tochter und nicht ein Mann, der dich mit leeren Versprechungen hingehalten hat, nur um dich dann doch letztendlich zu enttäuschen.

Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen kommt der Zug endlich zum Stehen und ich sehe schon aus der Ferne Kathis rotblonden Haarschopf aus der Menge der Wartenden hervorleuchten, doch sie ist nicht allein. Neben ihr steht ein groß gewachsener, schlanker junger Mann mit kastanienbraunem Haar, einem ebensolchen flaumigen Bartansatz und schwarzen Brillen. Doch das ist nicht, woran mein Blick hängenbleibt. Die beiden halten Händchen und sogar durch die leicht beschlagene Scheibe des Zuges ist Kathis Gesichtsausdruck eindeutig. Sie ist verliebt, und zwar heftig. Und der junge Mann neben ihr ebenso, wer immer auch der glückliche Auserwählte sein mag, denn seine nach oben gezogenen Mundwinkel sind dank seines noch recht spärlichen Bartes deutlich zu erkennen.

Ein Wirrwarr an Gefühlen durchzuckt mich wie eine Lasershow. Kathi, mein kleines Mädchen hat anscheinend die Liebe gefunden, und ich? Ich habe wohl endgültig meine Chance verpasst, jemals mit einem Partner an meiner Seite glücklich zu werden. Damit muss ich mich einfach abfinden. Auch als Single kann man ein erfülltes und schönes Leben haben. Solange ich nicht so verbittert ende wie Herbert in einem Zustand der dauernden Grantigkeit, den er nur durch ständigen Alkoholkonsum irgendwie auszuhalten vermag, ist mir alles recht.

Linda, jetzt mach aber mal halblang. Ich zwinge meine Gedanken zum abrupten Stehenbleiben. Ich bin hier um meine Tochter zu besuchen, nicht um mich selbst zu bemitleiden. Also reiß dich gefälligst zusammen und benimm dich wie eine erwachsene Mutter einer ebenso erwachsenen Tochter. Entschlossen schultere ich meine Reisetasche und, nachdem sich die Zugtür mit einem laut ächzenden Pfeifen geöffnet hat, quetsche ich mich geduldig wartend nach ein paar älteren Herrschaften durch die Tür.

Kathi kommt mir freudestrahlend entgegen, der junge Herr, den sie an der Hand mitzieht, beäugt mich etwas unsicher. Na klar, für den Ärmsten bin ich ja quasi die Schwiegermutter. Bilder einer rundlichen Frau mittleren Alters mit Lockenwicklern und einer gestärkten Schürze im Blümchendesign tauchen ungefragt in meinem Kopf auf. Die schiebst du jetzt mal ganz schnell zur Seite, Linda. Ich setzte mein entwaffnendstes Lächeln auf, was nicht allzu schwierig ist beim Anblick meiner offensichtlich so glücklichen Tochter, und breite meine Arme aus. Kathi lässt die Hand ihres Begleiters los und wirft sich in meine Umarmung.

Der gestohlene MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt