Teil 1

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- Eintrag 105. Tag und Nacht, Natur und Industrie, Feuer und Wasser. Es gibt überall Gegensätze, alles ist irgendwie in zwei geteilt. Das trifft auch auf uns Menschen zu. Es gibt zwei Inseln. Das Uptown, dort leben die Reichen und Berühmten. Und dann gibt es das Downtown, da, wo ich lebe. Dort leben die Armen, die Arbeiter. Im Uptown würden Sie uns Gesindel oder Ratten nennen, zumindest sagen das manche. Ich versuche das als Kompliment zu sehen. Ratten sind schlaue Tiere, aber-

»Ginessa! Kommst du bitte!« brüllte plötzlich eine schrille Stimme vom Gang. Der plötzliche Lärm im sonst, zumindest tagsüber, totenstillen Haus erschreckte mich so sehr, dass ich den Kugelschreiber fallen ließ, mit dem ich gerade in meinem Tagebuch geschrieben hatte. »Komme gleich!« rief ich entnervt zurück und kroch unter den Schreibtisch. Bevor wir gingen, wollte ich erst den Eintrag fertig schreiben, bevor ich alles wieder vergaß. Nikki meinte immer es wäre wichtig, seine Gedanken aufzuschreiben. Es war dunkel im Zimmer, sodass ich halb blind nach dem Stift tastete, ohne ihn zu finden. Aber irgendwo musste das blöde Ding doch sein! »Nicht gleich, sofort« hallte Frau Isses bissige Stimme zurück. »Ja, ja« murmelte ich leise »Leck mich doch.« Seit ich ins Waisenhaus oder was auch immer das hier sein sollte gebracht wurde, war Frau Isses, eine alte und verbitterte Schachtel, quasi mein Anstandswauwau. Ständig darauf bedacht das ich im Haus blieb, irgendwie überlebte und meine Termine wahrnahm. Während ich also noch auf dem Boden rumkroch und im dunkeln Zimmer (tagsüber MUSSTEN die Rollos unten sein, sonst wurde es zu heiß) nach dem Stift tastete, riss sie die Tür auf und ließ die grelle Mittagssonne in meinen kleinen Raum. Verwirrt über das plötzliche Licht kroch ich noch mehr unter den verschrammten Tisch und blickte argwöhnisch zur Tür, wo sich die magere, stocksteife Oma aufgebaut hatte, die Arme verschränkt und die Augen zusammen gekniffen »Junges Fräulein, wenn du nicht gleich kommst, kriegen wir beide richtig Ärger.« »Aber ich bin beschäftigt« gab ich schnippisch zurück und deutete nach oben, zu dem Schreibtisch der sich wie ein schützendes Dach über mich erstreckte.

Skeptisch dackelte die Alte zu mir, las konzentriert mein Gekritzel und duckte sich dann zu mir hinunter »Ginessa? Bist du wieder depressiv? Brauchst du deine Medikamente?« fragte sie mit einem Hauch von Sorge in der Stimme. Das regte mich noch mehr auf als das stinkende, kleine Zimmer das ich bewohnen musste. Seit sie mich erinnerungslos auf der Straße gefunden hatten, vor 8 Jahren um genau zu sein, schleppten sie mich regelmäßig zu einem Hobbypsychologen. Der versorgte mich mit etwas das alle "Medikamente" nannten. Ich würde sie eher als Drogen bezeichnen, und zwar als billig zusammengepanschte. So wie die schmeckten, wurden sie aus Dreck zusammengemischt. Die roten Pillen machten meinen Körper bleischwer und meine Gedanken müde, während die weißen Pillen dafür sorgten das ich die ganze Nacht hellwach und aufgedreht vor Glücksgefühlen durch die Straßen rannte. »Nein Danke, mir geht's gut« antworte ich mit bemühter Höflichkeit. Ihrem Blick nach zu Urteilen glaubte sie mir nicht, aber Lust sich näher mit mir zu beschäftigen hatte sie genauso wenig. »Los jetzt, wir kommen zu spät« drängend griff sie nach meinem Arm und zog mich unter dem Tisch hervor. Kaum stand ich im bleichen Licht, das vom Gang in mein Zimmer fiel, wich sie zurück. Ich musste aber auch schrecklich aussehen. Ein kleines Mädchen, völlig verwahrlost und mager, die schwarzen langen Haare seit Wochen nicht gekämmt, weil jemand meinen Kamm gemobst hatte. Vermutlich sah ich so aus wie das eine Mädchen aus diesem uralten Horrorfilm. Meine helle Haut war mit der nassen Asche vom Fabrikgelände verschmiert, womöglich auch etwas Blut vom Stacheldraht, und meine Kleider waren schon ziemlich zerfetzt. Ich hatte nicht genug Geld für eigene und deswegen schenkten mir die älteren Kinder manchmal ihre alten Klamotten. Eine nette Geste wie ich fand, auch wenn die Anziehsachen dann immer ein paar Nummern zu groß waren.

Isses hatte sich nun wieder gefasst, packte wieder meinen Arm und schleifte mich ins Bad »Ich dachte, wir kommen zu spät?« fragte ich höhnisch nach und schielte zu ihr hoch. Sie sah wütend aus, ich sollte lieber aufpassen. »So kannst du UNMÖGLICH bleiben« stellte sie klar »So denken Sie ja, das ich sonst was mit dir anstelle.« Das sie mich schlecht behandelte konnte man ihr wirklich nicht unterstellen. Sie kümmerte sich manchmal wochenlang nicht um mich, aber schlecht behandelte sie mich nie. Andere Betreuer machten ganz andere Sachen mit uns, eine Sache schlimmer als die andere. In letzter Zeit verschwanden sogar immer wieder Kinder. Das Licht im Bad war unnatürlich grell und kalt, ein schneeweißes Blendlicht das durch die weißen Fließen nur noch mehr betont wurde und sich sogar im verschmierten Spiegel reflektierte. Wie ein desorientiertes Tier stand ich da und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen die Alte, die sich trotz ihrer 60 Jahre flinker bewegte als ich, zumindest im Moment. Links- Rechts. Rechts- Links. Hin und her. Während ich mich noch an das zu helle Licht gewöhnen musste, immer noch etwas neben der Spur von den Drogen die mir der Psychodoktor gestern verabreicht hatte, wusch sie mir mit einem feuchten Tuch Gesicht und Arme sauber, ehe Sie sich anschließend meinen Haaren zu wand.

»Du könntest so ein schönes Mädchen sein« tadelte sie »Du müsstest nur mehr auf dein äußeres achten, weniger im Dreck spielen. Und« ihr Blick huschte skeptisch über mein Gesicht »Mehr Schlafen. Du hast Augenringe.« »Ich lege mehr Wert auf die inneren Werte. Außerdem schlafe ich genug« warf ich ein, aber sie redete einfach weiter »Und dich schminken« fuhr Isses ungerührt fort, ohne auf meinen Einwand einzugehen. »Ich will aber kein Farbtopf sein!« krähte ich dazwischen um ihren Redeschwall zu unterbrechen. Solche Sachen hatte ich schon zu oft gehört. Frau Isses fing jedes Mal wieder damit an. Verärgert schnalzte Sie mit der Zunge und band meine Haare zu einem Pferdeschwanz »Du bist zu stur. Das bricht dir noch das Genick. Wie willst du so später Leben? So alt werden? « fragte Isses mit theatralischer Stimme. Fast hätte ich rein gerufen, das ich ja nicht alt werden wollte, allerdings verbiss ich mir das Kommentar im letzten Moment. Sie unterstellte mir ja sowieso das ich depressiv wäre, da sollte ich lieber nichts äußern was noch mehr darauf hindeuten würde. »So. Fertig« zufrieden klatschte die Alte sich in die knochigen Hände »Nicht perfekt, aber vollkommen zweckmäßig.« Kurz schielte ich zum Spiegel. Bleiche Haut, dunkle Schatten unter meinen grünen Augen , was sie irgendwie schön betonte, und viel zu klein für mein Alter. Für ein Kind aus dem Downtown war ich recht hübsch. Ich drehte mich zu ihr um und belohnte ihre Arbeit mit einem kleinen Lächeln »Ich finde mich schön« erklärte ich, aber die alte Schachtel wedelte nur wegwerfend mit der Hand »Ja, ja und jetzt« Sie griff wieder schraubstockartig meinen Arm »müssen wir los.«

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