Wenn jemand eine Waffe auf einen richtete und dabei schrie, man sollte sich nicht bewegen, bewegte man sich auch nicht. Das wusste jeder. Man blieb wo man war, hob die Hände in die Luft und versuchte nicht zu atmen, während man betete, nicht erschossen zu werden. Das war auch meine erste Reaktion. Ich blieb wie erstarrt stehen und hob die Hände, zumindest hatte ich das vor. Dazu kam ich aber gar nicht. Nikki packte meine Hand und zog mich so heftig mit, dass ich zur Seite stolperte. Zum Glück, eigentlich. Denn keine Sekunde später bohrte sich eine Kugel in den Boden. Genau dort, wo ich kurz vorher noch gestanden hatte. »Bist du völlig bekloppt? Lauf!« zischte Nikki mir eindringlich zu »Sonst machen die menschlichen Käse aus dir.« Das hatte ich inzwischen auch gemerkt. Der Söldner hatte sicher nicht geschossen, weil er mir etwas nettes wollte. Viel mehr wollte er mich, na ja. Umbringen. Was man als bezahlter Schläger eben so tat. Mein Kopf brauchte einige Momente, ehe er sich von dem Nahtoderlebnis erholte, mein Körper rannte jedoch automatisch neben Nikki her. Was wirklich sehr Vorteilhaft war, denn ich konnte hören, dass uns schwere Schritte folgten. Es hörte sich so an, wie als wären es locker drei Männer. Allerdings keuchten sie alle schwer und sie kamen offenbar auch nicht näher an uns heran. Sicher würden sie schon bald aufgeben, uns zu verfolgen. Nikki und ich, wir waren schon oft vor Erwachsenen davon gerannt. Darin waren wir gut. Nikki war immer schneller als ich, sie konnte größere Schritte machen. Aber dafür war ich kleiner und wendiger. Jedenfalls zischten wir beide, wie Mäuse durch ein Labyrinth, blitzartig durch die vielen Gassen. Schon bald waren keine Schritte oder sonstige Geräusche mehr hinter uns zu hören, aber wir rannten einfach immer weiter. Teilweise aus Angst, teilweise aber auch, weil es einfach Spaß machte zu rennen. Als wir beide völlig atemlos und erschöpft zum stehen kamen, hatten wir den Wohnbezirk bereits hinter uns gelassen. Die engen Gassen waren immer breiter geworden, die Häuser immer kleiner und jetzt, in diesem kleinen Grenzbezirk, waren es sogar nur noch ein paar Häuser, die vereinzelt herum standen, umgeben von großen, aber ungepflegten Gärten.
»Ich- Ich glaube wir haben sie abgehängt« japste ich und ließ mich auf den Boden sinken, Nikki tat es mir gleich. Hier, fernab von allen Neonschildern und halb kaputten Straßenleuchten, konnte man den Mond und sogar die Sterne am Himmel sehen, die schwach durch den Smog hindurch schimmern konnten. Es war schwer Nikki in der Dunkelheit zu sehen, aber das musste ich auch nicht, um das Grinsen aus ihrer Stimme herauszuhören. »Da sagst du was, denen haben wir's gezeigt! Keiner ist schneller wie wir« wir lachten beide kurz darüber und saßen dann schweigend da, während die kalte Nachtluft die Hitze von unseren Körpern schluckte und wir wieder zu Atem kamen. Ich schätze, dass wir uns am Rande des 'Verlassenen Viertels' befanden, ganz im Süden der Insel. Ich wusste nicht, warum die Menschen diesen Teil der Stadt damals aufgegeben hatten, nur, dass sich inzwischen allerlei Gesindel hier herum trieb. Hier wurden verschiedene Rauschpflanzen angebaut, weil es der einzige Teil der Stadt war, in dem etwas wuchs. Viele Dealer und Abhängige hatten sich in den herunter gekommenen Häusern eingenistet, hauptsächlich im großen Einkaufszentrum in der Mitte des Viertels. Ansonsten lebten hier vermutlich noch ein paar Aussteiger, aber mehr auch nicht. Verlassen traf es schon sehr gut, dieses Viertel gehörte der Natur. Mein Blick wanderte zu Nikki und ich überlegte, ob wir nur durch Zufall hier waren. Eigentlich war Nikki nicht der Typ, der Kopflos irgendwo hin rannte. Bei jeder unserer Rennen, hatte sie uns irgendwohin geführt. Wie als hätte meine Freundin die Blicke gespürt, erhob sie sich und klopfte sich kurz die Hosen vom Dreck frei. »Also dann, weiter geht's« verkündete sie, mit einer fast schon lässigen Stimme, wie als wären wir nicht gerade noch um unser Leben gerannt. Auch ich raffte mich auf, klopfte mich auch kurz ab und schaute mich dann um »Gerne, aber wohin? Wir sind jetzt draußen. Was jetzt?« fragte ich bei ihr nach, auch wenn meine Frage theoretisch war. Nikki hatte bereits einen Plan, da war ich mir ganz sicher. Zumindest hoffte ich, dass sie noch ein Ass im Ärmel hatte. Langsam wurde es kalt. Da fiel mir ein, dass ich ja dieses mal mein ganzes Zeug dabei hatte. Während Nikki also erzählte, wühlte ich in meinen Rucksack und zog einen viel zu großen, dunkelbraunen Mantel hervor, in den ich schlüpfte.
»Du kennst mich, ich hab schon einen Ort für uns organisiert. Absolut sicher, keine Sorge. Wir kommen dort gut klar. Also, komm jetzt« Nikki setzte sich in Bewegung, ohne auf eine Antwort von mir zu warten, also folgte ich ihr einfach. Wir gingen tatsächlich tiefer in das verlassene Viertel hinein. Ich hatte also mit meiner Theorie recht gehabt, es war kein Zufall das wir hier gelandet waren. »Sicher das es dort sicher ist?« ich holte zu Nikki auf und lief neben ihr her. Es war nicht so, dass ich ihr nicht vertraute, aber es musste bestimmt einen Grund geben, dass dieses Viertel verlassen war. Außerdem wurden irgendwo hier die Leichen der Drillinge gefunden. Das kein gutes Omen. »Klar ist das sicher, 100%« beteuerte Nikki, in ihrer Stimme war kein leisester Zweifel zu hören. »Okay. Und wo ist es?« ein Hauch von Stolz huschte über Nikkis Züge »Der beste Platz überhaupt. Siehst du dann.« Sie wollte offenbar nicht weiter darüber reden, sondern mich überraschen, also ließ ich ihr den Spaß. Ich musste ja selbst zugeben, dass ich mich nicht gerade ängstlich fühlte, hier zu sein. Es war sehr dunkle, dass schon. Aber auch sehr still und friedlich. Und ich war nicht alleine, dass war wohl das wichtigste. Zweisamkeit konnte einen schon viel Mut spenden. Mit einen guten Freund an der Seite war es leicht, tapfer zu sein. »Wie geht es eigentlich deinen Kopf?« fragte Nikki plötzlich nach und meine Hand ging automatisch an die Stelle, wo der Stein gegen meinen Kopf geknallt war. Es hatte aufgehört zu bluten. Dennoch tat es weh, die Wunde zu berühren. »Geht schon, war nur ein Kratzer« antworte ich und versuchte, fröhlich zu klingen. Ich wollte ihr nicht sagen, dass ich Kopfweh hatte und mich etwas komisch fühlte. Vermutlich war es ohnehin nur Einbildung. Nikki nahm die Antwort zufrieden hin, wie als hätte sie die Aussage schon erwartet »Dachte ich mir. Keine Sorge, im Notfall haben wir in unseren neuen Zuhause einen Verbandskasten.«
»Gut, also müssen wir uns zumindest nicht vor infizierten Wunden fürchten« grinste ich scherzhaft und pikte ihr mit den Finger in die Seite. Nikki war genauso mager wie ich, und weil sie hoch gewachsen war, fiel es bei ihr noch mehr auf. Ich spürte deutlich ihren Rippen, die ohne irgendein Fettpolster unter der Haut lagen und nur durch das dünne T-Shirt geschützt würde. Ihr Körper war ganz warm, eher heiß. Ob Nikki Fieber hatte? Oder war ich einfach nur sehr kalt? Ich wusste es nicht genau. Mit einen Grinsen schlug sie meine Hand weg »Hör auf mich an zu krabbeln« schellte sie mich scherzhaft. »Wie? So etwa?« ich piekte sie nur noch weiter, bis sie mir einen Schubs versetzte, etwas fester als wohl beabsichtigt. Ich flog in ein Gebüsch am Rand und wir blickten uns beide verwirrt und erschrocken an, ehe unser Gelächter die Stille der Nacht zerriss. Nikki zog mich aus dem Grünzeug heraus und wir schlenderten weiter nebeneinander die breite, gepflasterte Hauptstraße hinunter, während ich Nikki erzählte, was sie alles im Waisenhaus verpasst hatte. Eigentlich hatte ich ja gehofft, sie würde dann auch etwas darüber erzählen, was sie getrieben hatte. Aber Nikki war nun mal Nikki und sie hüllte sich in mysteriöses Schweigen.
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Two Birds
FantasyWir schreiben das Jahr 4055. Die Welt ist untergegangen und alle Länder sind beinahe komplett im Meer versunken. Das Waisenkind Ginessa muss sich auf der riesigen, heruntergekommen Stadtinsel zurechtfinden, auf der es keine Regeln gibt. Als eines Ta...