Willow? Nein, der Name sagte mir tatsächlich nichts. »Meinst du ... Willie?« hakte ich nach kurzen nachdenken nach, denn ich erinnerte mich daran, diesen Namen mal irgendwo aufgeschnappt zu haben. Jetzt war es Breeze, der kurz verdutzt dreinblickte, dann schüttelte er aber ärgerlich den Kopf »Willie? Nein, Willie war unser Goldfisch. Ich rede von Willow! W-I-L-L-O-W. Willow. Aber ich hab mir schon fast gedacht, dass sie dir nichts von ihr erzählt haben. Die beiden schweigen sie ja regelrecht Tod« knurrte er mit düsteren Blick, wand sich mir zu und blickte mir erstaunlich ernst in die Augen, mit tiefen Kummer in seinem Blick. »Willow war meine kleine Schwester, sie war 11, also etwa so alt wie du. Sie ist an dieser ... Krankheit ... gestorben, wie so viele andere auch. Es ist erst einige Wochen her« bitter presste er die Lippen aufeinander »Deswegen sind wir auch auf dem Schiff, Mom und Dad wollten weg, bevor mir auch noch etwas passiert. Viele, die Kinder haben, wollen das. Die meisten hier wollen auf die Paradiesinseln um zu sehen, ob sie dort ein Haus und Anstellung finden. Falls ja, bleiben sie dort drüben. So hoffen sie, ihre Kinder retten zu können. Jedenfalls sind meine Eltern seit ihrem Tod extrem komisch. Es ist verboten über Willow zu reden. Und dann, dann kamst du und sie haben dich gleich mit offenen Armen aufgenommen? Ein Zufall? Wohl kaum. Die wollen dich, als Ersatz für Willow. Und das kann ich nicht akzeptieren. So ein dahergelaufenes Waisenkind ersetzt doch nicht meine kleine Schwester!«
Mir fehlten die Worte, und da ich nicht wusste, was ich sagen sollte, schwieg ich betroffen. Für ein paar Momente senkte ich den Blick auf meine Hände, die ich im Schoß gefaltet hatte und überlegte, was ich nun sagen sollte. Wie bei Imp damals, der seine Schwester verloren hatte, war auch diese Geschichte hier tragisch. Wenn auch zugegebenermaßen, nicht so tragisch. Es war ein Unterschied, ob ein geliebter Mensch an so etwas wie einer Krankheit starb oder ob er von einem anderen erschossen wurde. Es machte einen Unterschied, wenn vermutlich auch nur einen kleinen. Außerdem war bei Breeze und seinen Eltern zumindest der Ansatz von Gras über die Sache gewachsen. Der Schmerz saß sicher noch tief, war aber dennoch schon ein paar Wochen her. Als ich trösten wollte, waren es erst wenige Stunden gewesen. »Breeze, das tut mir leid. Ich wusste nicht, dass jemand von euch gestorben ist« äußerte ich mich vorsichtig, fuhr aber gleich fort, bevor er noch etwas dazu sagen konnte »Aber ich kann dir versichern, ich will ganz sicher nicht den Platz von Willow einnehmen!«
»Willst du nicht?« der Junge klang nicht überzeug, für ihn musste es wohl schwer nachvollziehbar sein, dass ein Waisenkind wie ich sich nicht gleich in die erstbeste Familie drängte. »Nicht doch, ich will wieder Nachhause! Meine Schwester wartet da auf mich. Ich hab gar nicht vor, bei euch zu bleiben« versicherte ich ihm gleich, womit auch der Entschluss gefasst war, das Angebot von Camille und Cleve abzulehnen. Ich würde nicht bei ihnen leben. Breeze überlegte einen Moment »Also willst du uns beklauen? Damit du dann Geld für deine Heimreise hast.« Jetzt wurde er doch etwas albern fand ich. Wieso kam er immer mit so etwas? Ich hatte, seid ich hier war, noch nie etwas geklaut. Zumindest nichts ernsthaftes. Bei der Küchenarbeit hatte ich ab und zu mal ein Häppchen von den Apfelschnitten geklaut oder eine Erdbeere. Aber Marsi machte das auch, also konnte es nicht so schlimm sein »Jetzt hör endlich auf! Ich klau nichts, ich bring niemanden um, ich will einfach nur Nachhause. Ich helfe doch sogar bei der Arbeit auf dem Schiff, quasi um mir die Reise zu bezahlen. Was soll ich denn sonst machen? Ich hab eben kein Geld. Alles, was ich habe, hab ich von den netten Leuten hier geschenkt bekommen. Keine einzige Sache ist gestohlen!« Das war nicht gelogen, selbst Breeze hatte schon oft genug gesehen, wie ich beschenkt wurde. Das schien auch ihm langsam aufzufallen, dennoch brummte er widerwillig »Na gut, der Punkt geht an dich« musste er nachgeben, was mich letzten Endes doch etwas verwunderte. Denn eigentlich war Breeze nicht so sehr der Typ für Vernunft. »Also, können wir miteinander klar kommen, solange ich noch hier bin? Sobald wir am Downtown vorbei fahren, bist du mich ja wieder los. Aber ich hab wirklich keine Lust, mich die ganze Zeit mit dir zu streiten. Erst Recht nicht, weil wir uns ohnehin jeden Tag sehen.«Mit einen tiefen Seufzen stand Breeze auf, wanderte im Zimmer auf und ab und schien zu überlegen, ob er Frieden schließen konnte oder nicht. »Du verschwindest so schnell wie möglich?« hakte er nach einer Weile erneut nach. »Ja, versprochen.« Er blieb vor mir stehen und reichte mir förmlich die Hand »In dem Fall, kann ich deine Nervigkeit wohl akzeptieren« stellte er fest, ehe er hinzufügte »Zumindest für eine Weile.« Ich nahm seine Hand und besiegelte so den unsichtbaren Vertrag zwischen uns. Frieden. Keine Streitereien, kein Gezickte. Nichts. Nun wussten wir beide nicht mehr, was wir einander sagen sollten. »Lass uns zum Fest gehen, bevor sie uns noch suchen« schlug ich vor und Breeze nickte dazu »Ich muss mich nur schnell umziehen. Wenn Mom und Dad mich so sehen, bringen sie mich um« brummte er, nun wo er seine Eltern erwähnte, kam wieder eine Anspannung in seine Züge. »Gut, soll ich warten?« hakte ich nach, aber Breeze schüttelte den Kopf »Nee. Geh schon mal. Ich brauch nicht lange, bin dann gleich da.« Ich wusste nicht, ob ich Breeze vertrauen konnte. Würde er wirklich kommen? Oder wollte er mich nur los werden, um sich wieder in seinem Zimmer einzuschließen? Aber ich wollte den frisch geschlossenen Frieden nicht gefährden, also verheimlichte ich meine Bedenken und machte mich alleine auf den Weg zum Saal.
Das Fest war dort bereits im vollen Gange und der Großteil aller Passagiere tummelte sich in dem festlich geschmückten Saal. Ich konnte Camille und Cleve nicht entdecken, machte mir aber auch nicht viel daraus. Erwachsene waren an solchen Tagen sowieso nur dazu da, um ignoriert zu werden. Feste bedeuteten eine deutlich größere Freiheit für uns Kinder, denn die Älteren wollten sich amüsieren, da blickte man auch mal bereitwillig über uns hinweg, in der Annahme, dass wir friedlich spielten. Ich machte mich also auf der Suche nach dem Rest meiner 'Crew' besonders nach Marsi. Wir hatten zwar vorher unser Spiel unterbrechen müssen, aber nun sprach ja nichts mehr dagegen, damit fortzufahren. Lange dauerte es nicht bis ich Marsi fand und genauso schnell waren auch wieder alle restlichen Crewmitglieder zusammen getrommelt. So kam es, dass es ein unvergesslicher Abend wurde. Vielleicht sogar der schönste Abend überhaupt. Unter dem Glanz etlicher Kronleuchter rannten, sprangen und krabbelten wir bis tief in die Nacht im Saal herum. Unter Tischen und Stühlen hindurch, die Treppen hinauf und hinunter, mal im Saal und mal draußen auf dem Deck. Die Erwachsenen um uns herum waren schnell vergessen, so versunken waren wir ihm Spiel. Sogar Breeze beteiligte sich auf seine Art und Weise daran. Immer wieder malte er uns Schatzkarten und versteckte die 'Schätze' die hauptsächlich aus den Glasflaschen voll Limonade, kleinen Küchlein und verschiedenen Bonbons bestanden. In manchen Schätzen war auch Geschirr wie Löffel, Gabel oder sogar stumpfe Messer versteckt, die wir als echtes Silber anpriesen. Kronkorken wurden zu Münzen, Besteck zu echten Silber, Gläser zu Kristall und wir hatten das Piratenabenteuer unseres Lebens. Durch den ganzen Zucker wurden wir nicht mal Müde, nicht mal Jengo wurde schläfrig, obwohl er eigentlich schon längst im Bett wäre. Nur mühsam, nach und nach, zerrten die Erwachsenen einen nach dem anderen vom Fest ins Bett. Am Ende, als die Feier bereits in ihren letzten Zügen lag, waren nur noch Marsi, Breeze und ich übrig. Aber sogar wir wurden langsam schläfriger, trotz des Zuckers war das toben sehr anstrengend gewesen. Nun saßen wir nur noch da und unterhielten uns so friedlich wie alte Freunde, während am Horizont aus dem Meer bereits kaum merkbar die ersten Sonnenstrahlen emporkämpften. Erst jetzt, wo die Nacht quasi vorbei war, kam auch uns die Idee, mal ins Bett zu gehen. Ohne uns von den Nachteulen, die selbst jetzt noch nicht aufgeben hatten, zu verabschieden trollten wir alle uns in die Kabinen und fielen dort müde wie die Toten ins Bett.
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Two Birds
FantasyWir schreiben das Jahr 4055. Die Welt ist untergegangen und alle Länder sind beinahe komplett im Meer versunken. Das Waisenkind Ginessa muss sich auf der riesigen, heruntergekommen Stadtinsel zurechtfinden, auf der es keine Regeln gibt. Als eines Ta...