Es dauerte seine Zeit, bis wir vor der Tür des Jugendamts ankamen. Auch die Tür zu diesen Räumlichkeiten war verschlossen, aber für Nox und seine technischen Fähigkeiten war das kein Problem. Ich fragte mich ja im Stillen, ob Nox das schon von vorneherein gekonnt hatte, oder aber ob Nikki es ihm extra beigebracht hatte. Da wir die KIs ja ursprünglich als 'persönliche Assistenten' von Grinsie selbst bekommen hatten, konnte ich mir ersteres nicht wirklich vorstellen. Aber auch die zweite Option schien mir nicht gerade plausibel. Was in aller Welt hatte Nikki geplant? Was hatte sie zu der Annahme verleiten können, dass sie diese Fähigkeit bei ihrer KI wohl öfter gebrauchen könnte? Ich konnte mir keine Option ausmalen, in der das der Fall wäre. So gab es also ein weiteres Rätsel, dass sich erst lösen würde, wenn wir Nikki endlich fanden. Das weiße Wartezimmer lag komplett im dunkeln da, nur auf der Plastikglas Theke, die eigentlich als Empfang diente, brannte merkwürdigerweise noch eine einsame Lampe. War noch jemand hier? Nein, ausgeschlossen. Es war Totenstill hier drinnen und sowieso war ja die Eingangstür abgesperrt gewesen. Vermutlich hatte nur jemand vergessen, dass Licht zu löschen, bevor er ging. Obwohl alles so still und verlassen wie nur möglich war, bekam ich es plötzlich mit den Nerven. Ein plötzliches Zittern rann durch meinen Körper und ich spürte, wie mein Magen sich umdrehte. Was machten wir eigentlich hier? Wir brachen in das wohl wichtigste Gebäude der ganzen Stadt ein. Oder nein, was hieß schon wir? Zwei KIs würden wohl kaum als Komplizen zählen. Falls wir erwischt wurden, ging es nur um mich. Ich müsste die Rechnung dafür begleichen. Ich müsste erklären, was wir hier machten und ich müsste es ausbaden, egal was die Strafe wäre. Und was würden sie dann mit mir tun? Würden sie Rücksicht darauf nehmen, dass ich noch ein Kind war? Darauf konnte ich mich nicht verlassen. Was, wenn sie mich einfach erschossen? So wie man es mit allen anderen Verbrechern machte, die erwischt wurden?
»Ich spüre, dass dein Puls ungewöhnlich hoch ist. Keine Sorge, Menschenkind. Die Wahrscheinlichkeit, dass unser Vorhaben schief geht, ist gering« redete Nox auf mich ein, wohl in der Annahme, dass er mich dadurch beruhigen konnte. Da er jedoch so merkwürdig emotionslos sprach, kam die Ruhe die er mir vermitteln wollte nicht wirklich bei mir an. »Ich weiß nicht Nox. Ich will wirklich nicht hier sein« nuschelte ich leise und lief voran in den dunklen Gang, von dem sich zahlreiche Türen in die verschiedenen Büros der Beamten abzweigten. Ganz hinten war sein Raum gewesen, ich erinnerte mich noch sehr gut daran, wie farbenfroh und zeitgleich verstörend das Büro von Grinsie gewesen war. Es war so sehr auf Kinder zugeschnitten gewesen, dass es schon wieder abschreckend wirkte. Die ganzen Kuscheltiere und Puppen mit ihren seelenlosen Augen und die farblich so gar nicht zusammen passenden Möbel. Aber am schlimmsten waren diese merkwürdigen Sessel gewesen, in die wir uns setzten mussten und in denen man regelrecht versank. Es war so, wie als wollten diese Sitzmöbel mich fressen. Gruselig. Während wir den Gang entlang schlichen, war nichts zu hören. Nur unsere Schritte, mein Atem und das regelmäßige Ticken einer Uhr. Vor Grinsies Büro zögerte ich noch einmal kurz, in meinen Kopf spielte sich ein neues Horror Szenario ab. Was, wenn ich die Tür öffnen würde, und er würde einfach dort drinnen schon auf uns warten? Er würde hinter der Tür lauern und, kaum dass sie aufging, aus seinen Versteck vorspringen und einen unmenschlichen Schrei von sich geben oder, noch schlimmer, ein irres Lachen ausstoßen. So wie diese Schachtelteufel, die irgendein Verrückter früher mal für ein gutes Kinderspielzeug gehalten hatte. Nur schwer schüttelte ich die Vorstellung ab, drückte die Klinke hinunter, stieß die Tür auf, und fand den Raum in völliger Dunkelheit. Das Licht meiner Taschenlampe hüpfte umher und tastete den gesamten Raum ab, aber das Büro war tatsächlich so verlassen, wie es zu dieser Tageszeit sein sollte.
»Siehst du? Keiner hier« brummte Nox, wie als hätte er meine Gedanken lesen können und schob sich an mir vorbei in den Raum. Ich folgte ihm und schloss die Tür hinter uns, wagte es jedoch nicht, dass Licht an zu machen. Wäre das Büro hell erleuchtet, würde es vielleicht jemand auf der Straße merken und Alarm schlagen. Auch wenn wir hier wirklich weit oben waren und das Fenster nur sehr klein war, man konnte nicht mal den Kopf hindurch stecken, um so nachdraußen zu sehen. Was vielleicht auch besser so war, wie viele Kinder würde dieser wahnsinnige sonst wohl in die Tiefe werfen? Gut, bisher hatte er eigentlich nichts getan, was ihn wirklich blutrünstig erscheinen ließ. Er hatte uns ja sogar diese KIs geschenkt, die zugegebenermaßen ziemlich praktisch waren. Oder zumindest gute Kameraden abgaben. Aber die Tatsache, dass er Waisenkinder an die Uptowns verkaufte, war ja wohl schon Grund genug, um ihn böse Absichten anzuhängen. Ganz zu schweigen davon das nur ein Blick durch sein Büro reichte, um zu sehen, dass er ganz bestimmt nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Nox hockte auf dem Schreibtisch und beobachte mich dabei wie ich begann, alle Schubladen und Ordner zu durchsuchen. Irgendwo musste ja etwas sein, irgendeine Akte oder zumindest ein Abschnitt, der nur mit Daten über Nikki gefüttert war und mir sagen würde, wo es sie hin verschlagen hatte. Ich ging alles akribisch durch, Nox selbst sorgte dafür, dass ich auch ja nichts übersah, aber zu Nikki ließ sich einfach nichts finden. Zu zahlreichen anderen Waisenkindern ja, aber Nikki wurde nirgendwo und in keinem Satz erwähnt. Auch zu mir oder Imp fand ich nichts. Es war schon reichlich merkwürdig, und vor allem auch frustrierend. Mit jeder Minute die verstrich wurde ich unruhiger, denn die Gefahr erwischt zu werden stieg mit jedem Moment, den wir hier verbrachten. »Vielleicht hat er das Zeug auch mit Nachhause genommen? Weiß zwar nicht ob das erlaubt ist, aber möglich wäre es oder? Dann suchen wir hier ganz umsonst« murmelte ich zu Nox, der gedankenversunken die Augen verengte »Vielleicht. Oder die Daten die wir suchen, sind auf dem Computer gespeichert« sein Blick wanderte zu dem klobigen, Kistengroßen Gerät, dass einen guten Teil des Schreibtisches einnahm. Darauf, auf diesen Gerät nachzusehen, war ich ehrlich gesagt nicht gekommen. Es erschien mir so alt und verkommen, dass ich es kaum für möglich hielt, dass es noch funktionierte. Moderne Technik war schon lange auf der Insel knapp geworden, zwar wurde viel produziert, dann aber stets ins Uptown exportiert. So blieben für die Leute hier immer nur die alten Geräte, die wieder und immer wieder repariert wurden. Und das hier war ein Paradebeispiel für diese Technikarmut. Der Computer war ganz bestimmt mindestens doppelt so alt wie ich selbst, wenn nicht sogar dreimal oder viermal so alt. Ich fand nach einigen Suchen den Anknopf und zuckte zusammen, als der PC laut auf keuchte und sein röcheln und surren auch nicht einstellte, als bereits der Ladebildschirm erschien. Auf dem verschmierten Bildschirm leuchtete nur ein Wort auf 'Willkommen'. Und gleich darauf das Eingabefeld für das Passwort. »Ähm, Nox? Wenn du die Türen öffnen konntest, kannst du Ding hier doch bestimmt auch lösen oder?« fragte ich hoffnungsvoll bei der KI nach. Denn nach einem Passwort zu suchen, hatte ich definitiv keine Zeit. »Ich kann schon, wenn dieser uralte Kasten eine Verbindung zum Internet besitzt« brummte Nox, sprang auf den sperrigen Bildschirm und blickte dann wieder konzentriert drein. Das Bild flackerte wild, wie als wäre der Computer plötzlich von einem Geist besessen, dann ertönte eine fröhliche Melodie und ein weiterer Ladebildschirm öffnete sich, der gleich darauf auf dem Desktop endete, wo alles mit verschiedenen Ordnern und Datein zugekleistert war.
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Two Birds
FantasyWir schreiben das Jahr 4055. Die Welt ist untergegangen und alle Länder sind beinahe komplett im Meer versunken. Das Waisenkind Ginessa muss sich auf der riesigen, heruntergekommen Stadtinsel zurechtfinden, auf der es keine Regeln gibt. Als eines Ta...