Ich sollte mich wehren. So machte man das, wenn man bedroht wurde. Aus Filmen wusste ich ganz genau, dass ich ihn jetzt einfach zwischen die Beine treten müsste. Das würde mir Zeit verschaffen, um ihn heftig gegen die Schläfe zu schlagen und dann wäre er, im Idealfall, bewusstlos und ich konnte wegrennen. Es war eigentlich so einfach oder es könnte so einfach sein. Aber es widerstrebte den Menschen nun mal, Artgenossen etwas zu tun, wenn es nicht unbedingt sein musste. Nur berauscht, ob von Drogen oder Wut, war ein Mensch zu so etwas ohne zu Zögern fähig. Ich spürte, dass ich es nicht konnte. Ich konnte ihn nicht weh tun, es wäre einfach nicht richtig. Vorher hatte ich es noch gewollt, ich wollte ihn wehtun, und zwar so richtig. Aber jetzt, wo er vor mir war, konnte ich es nicht. Ich duckte mich einfach nur gegen die Wand, hielt schützend die Hände vor mein Gesicht und schloss die Augen. Zu meinen Glück kam Breeze nicht zum Schlag. »Niemand prügelt hier irgendwas aus irgendwen« Heikirs sonst so warme Stimme erklang wie ein Donnern im leeren Flur. Ich spürte wie Breeze Körper ruckartig von mir zurück gerissen wurde und traute mich, vorsichtig die Augen zu öffnen und hinter meinen Händen hervor zu spähen. Der alte Mann hatte den Jungen mit erstaunlicher Kraft gepackt und von mir weg gezerrt, nun hielt er ihn am Arm fest und zog ihn so in Richtung seiner Kabine, wobei Breeze sich heftig wehrte. »Lassen Sie mich in Ruhe, sie irrer alter Mann! Das sag ich meinen Eltern! Sie werden gefeuert!« brüllte er wütend, ehe Heikir ihn in seine Kabine stieß »Ich denke nicht das ich der Böse sein werde, wenn deine Eltern erfahren, dass du einfach so ein Mädchen schlagen wolltest« bemerkte er gelassen und knallte dem verblüfften Breeze die Tür vor der Nase zu. Dann wand er sich mir zu und betrachte mich kurz. Als Heikir merkte, dass mir nichts fehlte, brummte er kurz »Aber ganz Unrecht hat der Junge nicht, du solltest dich nicht hier herum treiben. Was suchst du hier überhaupt?"«
»Ich wollte auf mein Zimmer.«
»Da hättest du auch die andere Treppe nehmen können, die neben der Brücke.«
»Die Treppe mag ich aber nicht« es war albern, aber ich mied die Treppe, die wir eigentlich nutzen sollten so gut wie es ging. Dort begegnete ich nämlich immer wieder dem ehemaligen Kapitän, dessen wahren Namen ich schon wieder vergessen hatte, und den ich deshalb nur Einauge nannte. Der alte Seebär hatte nämlich nur noch ein Auge, aus welchen Gründen auch immer. Aber er hatte nicht nur nur noch ein Auge, seine gesamte rechte Gesichtshälfte war entstellt. Was ihn nicht unbedingt half, einen freundlicheren Eindruck zu machen. Er konnte schon sehr gruselig sein, wenn er dort so im Halbdunkeln des unteren Decks stand. Aber das war es nicht. Irgendwas an dem Kerl stimmte nicht, ich hatte fast das Gefühl, er hätte es auf mich abgesehen. Jedes einzelne Mal wenn ich die Treppe hinunter stieg, war er da. Und nicht nur das, er beobachte mich aufs genauste, durchbohrte mich regelrecht mit seinen grauen Augen. Bei den letzten paar Malen hatte er sogar versucht mit mir zu sprechen, aber aus seinen krummen Mund war kein verständliches Wort gekommen. Ich war so schnell wie möglich weg gerannt, weil er mir so unheimlich war. Von Abstand halten hatte er noch nie gehört gehabt, während er versucht hatte, Worte auszuspucken, war er mir immer näher auf die Pelle gerückt. Ein wirklich gruseliger Typ. Und genau deshalb ging ich nicht gerne diese Treppe hinunter. Aber das konnte ich Heikir nicht sagen, er würde mich sicher als zu ängstlich oder noch schlimmer, oberflächlich, nennen. Er würde sagen, dass der alte Kapitän ein netter Kerl war und ich keine Angst haben musste. Aber genau das wollte ich nicht von ihm hören.»Warum denn? Die Treppen sind komplett gleich.«
»Darum eben« ich blieb bei meiner Aussage und verschränkte die Arme vor dem Körper, um das ganze nochmal zu unterstreichen. Heikir seufzte »Du bist schon ein sonderbares Kind. Tja, wenn du nur Flausen im Kopf hast, gibt es nur ein Heilmittel: Arbeit. Geh in die Küche, Marsi ist auch da. Du kannst ihr helfen.« Ich konnte ein leises stöhnen nicht unterdrücken. Ich wusste ja, dass ich theoretisch nicht hier sein dürfte. Das ich nur hier war, weil Heikir und Marsi mich vor den ertrinken gerettet hatten. Deswegen war es natürlich auch Ehrensache, dass ich ihnen ein wenig unter die Arme griff. Aber dieser ständige Küchendienst war furchtbar! »Muss ich wirklich?« jammerte ich, aber natürlich musste ich. Es gab keinen Weg daran vorbei. Also trollte ich mich widerstrebend den Gang entlang und hinunter, bis ich irgendwann an der riesigen Bordküche ankam. Wie immer herrschte dort ein hektisches Treiben, denn es stand immer irgendeine Mahlzeit an. Egal ob Frühstück, Mittagessen, die Kaffeezeit für die man Kuchen und Gebäck brauchte oder das Abendessen. Irgendetwas zu Kochen oder zu Backen gab es immer. Ich fand, die Küche hatte immer etwas von einer Komödie. Zum einen wegen dem komischen Outfits der Köche, insbesondere die Hüte sahen witzig aus, zum anderen ihr hektisches herum Gerenne, unter das man eigentlich noch Cartoonmusik legen müsste und zu guter Letzt wegen der Tragik, dass sie unaufhaltsam zwischen den Stadien Zubereiten und Aufräumen gefangen waren. Ein Kreislauf, der nie Enden würde, denn nach jedem Kochen sah die Küche erneut aus wie als hätte ein Tornado gewütet. Eine Weile stand ich so unwillig im Türrahmen und beobachte das Treiben, ehe ich die kleine Gestalt meiner Freundin zwischen all den Erwachsenen ausmachen konnte. Sie war gerade dabei, die Karotten zu schnippeln. Geschickt suchte ich mir meinen Weg zwischen den herum eilenden Köchen hindurch, schlich mich von hinten an Marsi an und legte ihr meine Hände schwer auf die Schulter, während ich »BUH!« in ihr Ohr grölte. Zu meiner großen Zufriedenheit zuckte sie tatsächlich zusammen, fuhr zu mir herum, und gab mir eine Ohrfeige. »AUA!" am Ende war ich doch diejenige, die sich mehr erschrocken hatte. Mit der Schelle hatte ich definitiv nicht gerechnet gehabt. Instinktiv stolperte ich einen Schritt zurück und drückte meine Hand gegen meine rote Wange. Marsi hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen und blickte mich so schuldbewusst an, dass es schon wieder etwas witziges hatte »Gott, Ginessa! Tut mir leid! Das wollte ich echt nicht. Du hast mich erschrocken« stammelte sie verlegen und ich brach ihn Gelächter aus, während ich mir die schmerzende Wange rieb. »Schon gut, immerhin hab ich es geschafft dich zu erschrecken« grinste ich fröhlich, denn bei Nikki hatte ich es nie geschafft. Bereitwillig trat wieder näher zu ihr an die Theke heran »Heikir sagt, ich soll helfen. Also? Was gibt es zu tun?«
Marsi schob mir ein längliches weißlich-grünes Ding zu »Hier, du kannst den Lauch schneiden.« Ich stieß ein tiefes Seufzen aus »Ich hasse Schneidearbeit« brummelte ich widerstrebend, zog dann aber ein Messer aus der Halterung und wollte schon anfangen, dass Ding zu zerhacken, bevor Marsi mich aufhielt »Nicht! Du musst es erst waschen und die äußerste Schicht abpellen!«
»Warum?«
»Darum halt, Giovanni hat es mir so erklärt« Marsi warf einen Blick zu dem merkwürdig gutgelaunten und munteren Mann, der sich hier in der Küche wie ein Fisch im Wasser bewegte. Irgendwie schaffte er es gleichzeitig zu kochen, Witze zu reißen, den anderen Ratschläge zu erteilen und alles zu organisieren. »Na gut, wenn er es sagt, muss es stimmen« akzeptierte ich die Argumentation von Marsi. So nett Giovanni auch war, so rasend konnte er auch werden, wenn man absichtlich seine Ratschläge nicht befolgte. Ich bearbeite den blöden Lauch also, wie er es wollte. Und die Tomaten und die Paprika. Und die Kartoffeln. Wir waren sehr lange damit beschäftigt, alle möglichen kleinen Arbeiten in der Küche zu erledigen. Als die meisten Gerichte dann endlich fertig waren, hatten wir selbst einen Bärenhunger. Aber noch gab es für die Arbeiter kein Essen. Wir mussten erst die Küche sauber machen, was ebenfalls nochmal ein paar Stunden in Anspruch nahm, bis die Erwachsenen uns endlich erlaubten, zu gehen. Einen Vorteil hatte es wenigstens: Dadurch, dass wir so fleißig gearbeitet hatten, bekamen wir beide einen Muffin geschenkt.
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Two Birds
FantasyWir schreiben das Jahr 4055. Die Welt ist untergegangen und alle Länder sind beinahe komplett im Meer versunken. Das Waisenkind Ginessa muss sich auf der riesigen, heruntergekommen Stadtinsel zurechtfinden, auf der es keine Regeln gibt. Als eines Ta...