Teil 32

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Mit den Wochen, die vor überstrichen, wurde auch mein Heimweh schwächer. Ja, es war sogar fast so, dass es mir sogar besser ging. Viel besser. Durch meine Herkunft aus dem Downtown war ich regelrecht zu einer Bekanntheit auf dem Schiff geworden. Als Heikir davon erfuhr, dass ich am Abend einfach herum gestreift und mit den Gästen geredet hatte, war er nicht sehr begeistert davon. Er fürchtete das ich als 'Streuner' vielleicht eine Belästigung für seine Passagiere wäre. Immerhin distanzierte sich das Uptown bewusst von Downtown, verteufelte es dort als schmutzig und bösartig. Ich sollte sie also nicht belästigen, sodass sie sich gestört fühlen könnten. Wobei Belästigen meinte, dass ich sie einfach nur ansprach. Ich Idealfall sollte ich sie also nicht ansprechen und ihnen auch nicht unter die Augen treten. Das sagte er mir am Abend. Schon am Morgen darauf nahm er alles zurück. Die Leute aus der Oberschicht waren komische Menschen. Um sich von der Unterklasse, von dem Durchschnitt, zu distanzieren, trieben sie alles genau in die Gegenteilige Richtung. Sie übertrieben mit allem, mit ihrem Glück und ihrer Liebe ebenso wie mit ihrer Trauer und ihrem Ärger. Sie vergötterten, was ein normaler Mensch fürchtete und hasste. Und sie hassten und fürchteten das, was der normale Menschenverstand liebte. So fanden sie, dass ich außerordentlich niedlich und liebenswürdig sei. Schon am nächsten Tag fragten sämtliche Leute nach mir, insbesondere das Schauspielerpaar Cleve und Camille. Bevor ich mich versah, war ich quasi in den Schoß ihrer Familie aufgenommen. Ich aß jeden Abend gemeinsam mit ihnen im großen Speisesaal und tagsüber hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, mich mit Unterricht zu quälen, wenn ich ihnen in die Finger kam. Insbesondere Schauspielunterricht, gemeinsam mit ihrem Sohn Breeze. Er war nur ein Jahr älter als ich, was nichts daran ändere, dass wir uns nicht leiden konnten. Ich hielt ihn für arrogant und unfreundlich. Und er hielt mich für ... ach, ich wusste gar nicht, was er über mich dachte. Und es interessierte mich auch nicht sonderlich. 

Obwohl ich Cleve und Camilla gerne mochte, ging ich ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg, nur um Breeze nicht auch zu begegnen. Viel lieber trieb ich mich mit Marsi auf dem Schiff herum. Da wir auf dem oberen Deck und in den verschiedenen Luxuseinrichtungen aber kaum Ruhe hatten, da ständig irgendwelche Erwachsenen mit mir reden, mich zum Essen einladen oder sonst etwas wollten, spielten wir hauptsächlich im unteren Teil des Schiffes. Hauptsächlich spielten wir dort verstecken, was auch nötig war, denn eigentlich durften wir dort gar nicht hin. Als Heikir bemerkte, wie viel Zeit wir in den Mannschafts-, Maschinen- und Lagerräumen zubrachten, verbot er uns endgültig dorthin zu gehen. Und nachdem wir darauf nicht hörten, schloss er alles ab. Uns blieb also nichts anderes übrig, als nun doch auf dem oberen Deck zu spielen. Was nicht sehr gut klappte. Ständig zerrte mich jemand von meiner Spielgefährtin fort und nach vielen Tagen des vergeblichen Versuchens, gab ich es auf, mit ihr Spielen zu wollen. Wir trafen uns nur noch Abends, in ihrer oder in meiner Kabine. Dann spielten wir Brettspiele oder redeten lange. Ich erfuhr von Marsi, warum die ganzen Paare sich so auf mich stürzten. Offenbar grassierte im Uptown etwas, eine Art Seuche.  Sie betraf nur die Kinder und endete meist tödlich. Keiner wusste, was der Auslöser war, aber seit die Krankheit aufgetreten war, hatten viele Kinder den Tod gefunden. Marsi erzählte, die Schulen wären jetzt halb verwaist, so viele Tote Kinder gab es. Fast jede Familie hatte mindestens ein Kind verloren. Das erklärte natürlich so einiges. Es war mehr als mein Ruf als vernachlässigtes Waisenkind aus einem Elendsviertel, ich erinnerte wohl die meisten Eltern einfach an ihr verstorbenes Kind. Oder, die, die keine Kinder hatten, freuten sich einfach, ein gesundes und aufgewecktes Kind  zu sehen. Kein Kind, dass krank mit Organversagen und langsam absterbenden Gliedern Bluthustend im Bett lag und vor sich hin krepierte.

Es war eine merkwürdige Vorstellung, dass es so etwas schreckliches im Uptown geben sollte. Nikki und ich, wir hatten oft über diese Insel spekuliert. Alles was man vom Uptown wusste war, dass die Leute dort reich, berühmt und schön waren. Also war es nur klar gewesen, dass die Insel an sich das auch ausstrahlen musste. Alles musste prächtig, teuer und perfekt sein. Das es dort so etwas wie Krankheiten gab, gegen die ihre Ärzte Machtlos waren, zerstörte dieses Bild so ziemlich. Selbst das Uptown war kein komplettes Paradies, wie es schien. Mit derart ernüchternden Gedanken trieb ich mich am nächsten Morgen am Oberdeck herum. Wo Marsi war wusste ich nicht, aber es war mir auch ganz recht. Gerade hatte ich der merkwürdige Gefühl, alleine sein zu müssen. Dafür war ich extra besonders früh am Morgen aufgestanden. Es war noch dunkel, nur ein leichter Schimmer am Horizont verriet, dass die Sonne bald aufgehen würde. Ich wusste inzwischen, dass die meisten Leute hier recht lange schliefen, also sollte ich etwa eine oder zwei Stunden Ruhe haben, bevor der Trubel erneut los ging. Mit gemächlichen Schritten schlenderte ich auf dem Deck herum, blickte aufs Meer hinaus und überlegte. Marsi hatte erzählt, dass wir bald bei den Paradiesinseln ankommen würden. Da würden wir dann eine Wochen bleiben, und dann wieder zurück fahren. Also waren wir, wenn kein Sturm dazwischen kam, noch mindestens fünf Wochen unterwegs. Das war eine ganz schön lange Zeit. Ohnehin war ich ja schon lange weg, aber bis wir wieder am Downtown vorbeischipperten und ich Nachhause konnte, dauerte es noch länger. Nikki nahm inzwischen garantiert an, dass ich Tod wäre. Ob sie wohl schon aufgehört hatte, nach mir zu suchen? Nikki war sehr pragmatisch, wenn sie keinen Sinn mehr darin sah, würde sie sicher aufhören. Allerdings sollte man Nikki auch nicht als seelenlose, kalkulierende Maschine einordnen, auch wenn sie sich große Mühe gab, so zu erscheinen.

In all den Jahren, in denen wir uns nun kannte, hatte ihre Loyalität nicht ein einziges Mal nachgelassen. Solange sie meine Leiche nicht finden würde, würde sie bestimmt weiter nach mir suchen. »Mir geht's gut Nikki. Ich komme bald Nachhause. Mach dir bitte keine Sorgen« murmelte ich in den Wind hinein und dachte dabei ganz fest an meine Freundin, in der Hoffnung, sie würde es vielleicht fühlen, dass ich noch lebendig hier draußen war. Über eine solch kindische Fantasie würde sie sicher nur Lachen, aber ich hatte zumindest die Hoffnung daran, dass es vielleicht funktionieren könnte. War es nicht oft vorgekommen, dass wir wie durch Geisterhand wussten was der andere sagen oder tun würde? Wir hatten oft im selben Moment das gleiche ausgesprochen. Ein Blick hatte gereicht und wir wussten, was der andere dachte. Und stets konnten wir abschätzen, was der andere gleich tun würde. Wir kannten einander und, so unterschiedlich in vielen Dingen wir auch sein mochten, würden wir immer zusammen bleiben. Hätte ich noch mehr Zeit gehabt, mir Gedanken zu machen, hätte mich nun wohl doch endgültig die Sehnsucht nach meinem Zuhause gepackt. Kurz bevor sich dieses Gefühl bei mir einstellen konnte, kam aber auch schon Camilla daher. Sie war die Frühaufsteherin der Familie, war schon immer weit vor den anderen auf. Aber selbst um diese frühe Uhrzeit, sah sie so gestylt aus, dass ich mir gut vorstellen konnte, dass sie so geschlafen hatte. Ihr langes, blondes Haar war so aufwendig frisiert, dass es Stunden gebraucht haben musste. Und die guten Klamotten und der glänzende Modeschmuck war genau aufeinander abgestimmt. Die große, schlanke Frau kam mit ihrem Modelgang über das Deck spaziert, genau auf mich zu. Sofort wischte ich die Gedanken beiseite und ließ mich in die Rolle gleiten, die ich auf diesem Schiff übernahm. Das unbeschwerte, oft unwissende und manchmal auch verkorkste Kind aus dem Downtown.

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