Nach dem Geschichtsunterricht stand Mathe auf dem Plan, dem furchtbarsten Fach von allen. Anschließend noch eine Stunde mit Fremdsprachen, wofür auch immer wir die brauchten, und das war es dann auch schon. Nach knappen 3 Stunden war der Unterricht für den Tag beendet und es kam bereits die nächste Klasse in den Raum, die nun bis in den Nachmittag Unterricht hätte, ehe die nächste Klasse kam und bis zum Abend belehrt wurde. Normalerweise war das immer ein sehr freudiges Tagesereignis, bei dem Ältere und Jüngere mal in Ruhe in die Gelegenheit hatten, sich auszutauschen. Aber heute war die Stimmung merklich gedrückt. Zwar wurde leise miteinander gemurmelt, während manche ihre Sachen ein- und die anderen auspackten, aber über allem lag noch der graue Schleier der Ereignisse, die an diesem Morgen geschehen waren. Manche umarmten sich und ein paar weinten sogar leise zusammen, weil sie wohl einen gemeinsamen Freund verloren hatten. Ein wahrlich dunkler Tag. Der einzige dem davon nichts anzumerken war, war Ai. Der scheuchte nur die jüngeren auf und krähte, dass der Unterricht weitergehen müsse. Heute war niemanden mehr nach Rebellion zumute, wir hatten ja gesehen zu was das im schlimmsten Fall führte, also trollten wir uns alle wieder die Treppen hinunter, in den zweiten Stock. Es sollte jetzt auch gleich Mittagessen für uns geben, auch wenn auf dem Gang noch nichts davon zu riechen war. Auf dem Weg zur Küche schaute ich kurz in meinen Zimmer vorbei und pfefferte den Rucksack hinein. Kurz fiel mein Blick auf Pixel, dort wo vorher die Sonne draufgeschienen hatte, war nun Dunkelheit. Der Bildschirm war schwarz, deswegen war ich mir nicht sicher, ob es funktioniert hatte. Gerade hatte ich aber auch keine Zeit nachzusehen, dass musste bis später warten. Kam man auch nur 10 Minuten zu spät, gab es oft schon kein Essen mehr, deswegen hieß es, sich zu beeilen. Kaum stand ich wieder im Gang, wurde ich jedoch erneut aufgehalten. Nun ja, aufgehalten war wohl übertrieben. Viel mehr abgelenkt. Aus dem Zimmer nebenan drangen leise Geräusche, die sich stark nach Heulen anhörte.
Eigentlich war das keine Sache, die mich etwas anging. Ich sollte einfach zum Essen gehen und mich raus halten. Nur leider war ich darin noch nie sehr gut, eine Mischung aus Neugier und Mitgefühl funkte mir immer dazwischen. Ich trat also an die Zimmertür und klopfte zaghaft dagegen, während mein Blick zu dem kleinen Namensschild strich, das neben der Tür angebracht war. Es war das Zimmer von Imp. Es kam keine Antwort aus dem inneren, aber das Wimmern hörte auf. Was für mich Einladung genug war. Es war sogar noch dunkler, wie in meinen eigenen Zimmer, kein Spalt in der Rollo ließ etwas Licht hinein. Das einzige, was das Zimmer etwas erhellte, war die nun offene Tür. Es brauchte ein paar Augenblicke, bis meine Augen sich an die Düsternis gewöhnte. Imp war offenbar nicht gut im aufräumen. Alles lag in seinen Zimmer verstreut - Schulsachen, Klamotten, Spielzeug und auch Müll. Imp selbst hatte sich in einer Ecke zusammen gekauert, selbst bei dem schwachen Licht konnte ich erkennen, dass seine Augen gerötet vom Weinen waren. »Imp?« fragte ich vorsichtig nach und trat ein paar Schritte in den Raum, ich konnte mir schon fast denken, was furchtbares passiert war. »Gin?« Imp schien verwirrt, dann schluchzte er leise, ehe seine Stimme wütend wurde »Geh weg! Ich will allein sein!« Für einen Moment überlegte ernsthaft, ob ich gehen sollte. Eigentlich kannte ich Imp ja kaum, wir standen uns nicht sehr nahe. Und manchmal war es auch besser, Menschen in Ruhe trauern zu lassen. Aber es würde sich falsch anfühlen, jetzt zu gehen und ihn so traurig zurück zu lassen. Vielleicht würde er dann denken, dass es mich nicht interessierte, wie es ihm ging. Vorsichtig setzte ich mich neben ihn an die Wand. Imp drehte sich zwar weg, machte aber keine Anstalten aufzustehen oder mich rauzuschmeißen. Er schluchzte nur so herzzerreißend, wie ein Kind es eben konnte, dass ihn tiefster Trauer war. »Ist es wegen dem, was heute Morgen passiert ist?« fragte ich vorsichtig nach, auch wenn es eher eine theoretische Frage war. Der Zusammenhang war offensichtlich. Erneut wurde Imps kleiner Körper durch einen heftigen Schluchzer geschüttelt »Fajra. Fajara ... sie ... sie ist Tod! Die haben sie umgebracht! Diese Arschlöcher haben« Imp schniefte atemlos, offenbar bereits erschöpft vom vielen Weinen »Die haben meine Schwester auf ihren Gewissen.«
Genau das hatte ich mir schon gedacht, als ich Imp weinen gesehen hatte. Er war nicht die Sorte Mensch, die leicht weinten. Nur der Tod seiner Schwester, hätte ihn zu so etwas bringen können. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, hatte Fajara sich zwei Jahre lang um ihn gekümmert, obwohl sie selbst nur vier Jahre älter war als er. Die Zeit auf der Straße hatte beide Geschwister eng zusammen geschweißt, sie hatten einander sehr geliebt. Und nun war sie Tod, Imp hatte jetzt endgültig seine gesamte Familie verloren. Ich schluckte kurz und schwieg, während Imp weiter heulte. Ich wusste einfach nicht, was ich in so einer Situation sagen sollte. Was sagte man auch schon einen Menschen, der so etwas furchtbares durchmachte? Es gab keine Worte, die Trösten könnten. Und falls es welche gab, fielen sie mir nicht ein. Ich legte einfach schweigend eine Hand auf seine Schulter und hoffte, dass diese Geste des Beistands vielleicht helfen würde. Und dann wartete ich, bis er sich etwas beruhigt hatte. Oder viel mehr, bis keine Tränen mehr kamen und er einfach zu erschöpft zum weinen war. »Sie ist weg« flüsterte Imp mir mit rauer Stimme zu »Für immer. Ich werde sie nie mehr wieder sehen.« Einen kurzen Moment schwiegen wir beide, ehe Imp wieder sprach »Das vergess ich denen nie. Die werden das bereuen. Sie werden es ganz furchtbar bereuen.« Rache war ein schwieriges Thema. Vor allem wenn man ein Waisenkind war, dass nichts und niemanden hatte. Ich konnte Imp ja verstehen, aber dennoch, Rache wäre Selbstmord. Hatte er nicht selbst gesehen, dass sie kein Problem damit hatten, selbst Kinder niederzumähen? Die Nakoa waren Killer. Man sollte sich mit denen nicht anlegen. Aber sollten wir uns das deswegen gefallen lassen? Hier drinnen im Waisenhaus zu sein, Tag um Tag und Stunde um Stunde, würden jeden in den Wahnsinn treiben. Sogar die Stubenhocker. Also mussten wir uns wehren oder? Mein Blick ging zu Imp, der mich Erwartungsvoll anschaute, wie als würde er auf meine Zustimmung hoffen. Deswegen nickte ich nur leicht, ich wollte seine Aufkommende Hoffnung nicht gleich zerstören. Außerdem brauchte ich selbst mehr Zeit, um zu überlegen was richtig war. Ich wollte ja auch raus, aber über Leichen wollte ich dafür eigentlich nicht gehen. In der Hoffnung das sich alles von selbst klären würde, fasste ich seine Hand und zog ihn mit mir hoch »Lass uns was Essen gehen. Wer Kämpfen will, braucht Energie.« Der kleine Junge wischte sich noch kurz mit dem Ärmel über die Augen, nickte dann aber trotzig und wir schlenderten zu der Küche. Inzwischen war das bessere Essen garantiert schon weg, aber irgendetwas mussten sie uns ja vorsetzen. Und die Hauptsache war, dass Imp zumindest für den Moment etwas getröstet war. Ob es jetzt wegen Rachegedanken war oder wegen etwas anderem, war mir eigentlich ziemlich egal.
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Two Birds
FantasyWir schreiben das Jahr 4055. Die Welt ist untergegangen und alle Länder sind beinahe komplett im Meer versunken. Das Waisenkind Ginessa muss sich auf der riesigen, heruntergekommen Stadtinsel zurechtfinden, auf der es keine Regeln gibt. Als eines Ta...